Die Predigt im Wortlaut:
„Der Mietvertrag gilt für vier Personen, wenn wir ein drittes Kind bekämen, dann müssen wir uns eine neue Wohnung suchen.“ So begründete in der vergangenen Woche eine Frau in einer Fernsehreportage, warum sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat. Eine andere Frau sagte in der gleichen Fernsehsendung, dass ihr Partner sie zur Abtreibung drängte, weil er kein Kind will.
Die Debatte um den § 218 ist voll entbrannt. Obwohl selbst die Bundesregierung in der vergangenen Woche angesichts der unterschiedlichen Reaktionen sagte, dass es keine schnelle Entscheidung über eine Liberalisierung oder gar Streichung des sogenannten Abtreibungsparagrafen geben würde, dennoch wird über die Medien auf eine politische Entscheidung hingewirkt – zumeist mit der Begründung, dass heute kaum noch jemand für den § 218 Verständnis habe. In einem Zeitungskommentar an diesem Freitag hieß es: Der „Paragraf 218 ist bis heute Ausdruck der Missachtung der Frau.“ Die immer wieder angemahnte sorgsame Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau und dem Lebensrecht des werdenden Kindes wird kaum mehr vorgenommen. Das Lebensrecht des Kindes im Mutterleib scheint ohne Schutz zu sein.
Außerdem geht es in der Situation einer vielleicht sogar ungewollten Schwangerschaft auch um die Frage, wie es um die Solidarität in der Gesellschaft steht. Kann es sein, dass in einem der wohlhabendsten Länder der Erde aus sozialen Gründen einem Kind das Lebensrecht abgesprochen wird?
Auch im Blick auf das Lebensende drängt sich die Frage auf, wie es um die Solidarität mit dem geschwächten, kranken, hilfebedürftigen Menschen steht. „Immer mehr Menschen in Deutschland entscheiden sich für einen assistierten Suizid“, gab die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) kürzlich bekannt. Als Gründe gaben Suizidwillige für ihren Sterbewunsch Lebenssattheit, Multimorbidität sowie das Vorliegen einer Krebserkrankung oder eine neurologische Erkrankung an. Zugleich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen: Wenn ein Schwerkranker spürt, dass er Zuwendung, Begleitung erfährt und nicht den Eindruck hat, dass er Last oder gar lästig oder nur noch Kostenfaktor ist, dann ist ein vielleicht sogar zunächst geäußerter Sterbewunsch schnell überholt. Immer wieder wird dazu geäußert: „An der Hand eines Mitmenschen und nicht nur durch seine Hand sterben dürfen.“
Der französische Präsident Macron hat in einem Gespräch „ein Gesetz der Brüderlichkeit“ zur aktiven Sterbehilfe angekündigt. Ein Bürgerkonvent habe sich mehrheitlich für eine Genehmigung der aktiven Sterbehilfe ausgesprochen. Fünfzehn Berufsverbände im Bereich Pflege und Geriatrie in Frankreich haben einen Protestbrief veröffentlicht. Sie warnen vor Missbräuchen. „Unsere Mission kann nicht sein, Menschen zu töten“, heißt es weiter. Die französischen Bischöfe kritisieren das mangelhafte Angebot in der Palliativmedizin. „Wenn die Palliativmedizin besser entwickelt wäre, hätten die Franzosen auch einen anderen Blick auf das Lebensende.“
Dazu tauchen immer wieder Diskussionen im Blick auf Menschen mit Behinderungen auf. Da heißt es z.B.: „Es muss heute kein behinderter Mensch mehr zur Welt kommen!“ Desweiteren stellen andere die finanziellen Mittel für die Betreuung und Förderung von Menschen mit Handicaps in Frage.
Es geht mehr und mehr um die Sicht und die Bewertung des Lebens und damit immer auch um die Verantwortung für das Leben und die Solidarität, durch die wir uns als menschliche Gesellschaft erleben.
Deshalb müssen wir fragen: Worum geht es in unserer Gesellschaft?
- Geht es vor allem darum, wirtschaftliche, ökonomische Interessen zum Leitprinzip gesellschaftlichen und sozialen Handelns zu machen?
- Geht es darum, Selbstverwirklichung als das Durchsetzen eigener Interessen anzusehen?
An diesem vierten Ostersonntag steht uns das Bild des guten Hirten vor Augen. Jesus, so berichtet der Johannesevangelist, sagt: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber … lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; … weil … ihm an den Schafen nichts liegt.“
Von Bischof Franz Kamphaus, lange Jahre Bischof von Limburg, wurde in der vergangenen Woche berichtet, dass er – inzwischen 92 Jahre alt, aber im Kopf sehr klar – sich bewusst auf sein Sterben vorbereite. Vor Jahren brachte er es auf den Punkt: „Dem Knecht liegt nichts an den Schafen, sondern nur an der Wolle!“ Und damit kommen wir zum eigentlichen Problem:
Sie brauchen keine „Hirten“, für die sie nur so lange interessant sind, so lange von ihnen ein Nutzen oder Gewinn erwartet werden kann. Deshalb muss es in eine gesellschaftliche Katastrophe führen,
- wenn Menschen sich nicht mehr umeinander annehmen,
- wenn Leben nur noch nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip bewertet wird,
- wenn soziale Gerechtigkeit der Gewinnoptimierung geopfert wird,
- wenn jeder nur nach dem eigenen Vorteil fragt und möglichst viel für sich herausholen will,
- wenn Kinder nicht mehr gewollt sind oder in einer ablehnenden Umgebung heranwachsen,
- wenn Kranke, Schwache, Hilfs- und Pflegebedürftige nicht mehr auf Solidarität und Hilfsbereitschaft hoffen dürfen.
Es kommt darauf an, welche Lebensmuster, welche Werte durch die aktuellen Vorbilder in unserer Gesellschaft vorherrschen.
Der schon erwähnte frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus prägte einmal den Satz: „Es gibt zwei Arten von Hirten: Die einen interessieren sich für die Wolle, die anderen für das Fleisch. Für die Schafe interessiert sich niemand!“
Genau darauf kommt es aber an – auf das Interesse am Menschen und nicht primär, was ich durch ihn an Nutzen habe. Es braucht Partner, Eltern, Großeltern, Verwandte, Freunde, Seelsorger, Lehrer, Politiker, Arbeitgeber, Manager, Vorgesetzte, die sich im Familienleben, in ihrem beruflichen wie auch ehrenamtlichen Engagement als Mitmenschen, als „gute Hirten“ erweisen. Daneben darf nicht der – im wahrsten Sinne des Wortes – unheimlich starke Einfluss der Medien und derer, die sich darin produzieren, vergessen werden.
Früher wurde an diesem vierten Ostersonntag – auch Sonntag des „Guten Hirten“ genannt – vor allem um geistliche Berufe gebetet.
- Heute ist es viel wichtiger, um Familien und Solidargemeinschaften im Lebens- bzw. Sozialraum der Menschen zu beten, wo gegenseitige Hirtensorge erlebt werden kann, und wo dann auch wieder junge Menschen heranwachsen können, die bereit sind, sich für andere einzusetzen und es vielleicht sogar einmal den konkreten Hirtendienst zu ihrer Lebensaufgabe machen in einem sozialen oder gar einem pastorale Beruf.
- Heute ist es viel wichtiger, um eine geistvolle und geistliche Atmosphäre in unserer Gesellschaft zu beten, damit die Menschen sich im Geiste Jesu umeinander annehmen, auch wenn das von den Meinungsmachern oft als „christlich verbrämt“ abgetan wird.
Am kommenden Samstag breche ich mit einer Gruppe von beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Caritas zu einer Reise nach Rom auf. Dabei werden wir auch eine der Katakomben besuchen, in denen die junge Christengemeinden oft Zuflucht gesucht und sich zu Gottesdiensten versammelt haben. Dort sind Wandmalereien zu finden, die Jesus als den guten Hirten darstellen. Von ihm fühlten sie sich – gerade in der Bedrängnis der Verfolgung – getragen. Mit IHM im Herzen machten sie sich wieder auf den Weg, um selbst unter den Menschen Zeugnis für die grenzenlose Liebe Gottes zu geben, der die Last anderer mitträgt. Die Christen haben – obwohl sie nur Minderheit waren – nachhaltig gewirkt. Sie haben durch ihr Verhalten, durch ihr Engagement ihre Mitmenschen hellhörig gemacht für die Lebensbotschaft Gottes, sie haben Hoffnung verbreitet und die soziale Kultur geprägt.
Bei all den Diskussionen und Debatten um grundlegende Werte für eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft in unseren Tagen ist es wichtig, dass klar wird, wofür wir Christen einstehen.
- Eine Gesellschaft ist nur dann wirklich menschlich, wenn auch geschwächtes Leben darin Platz hat und die Bereitschaft zur Solidarität besteht und wirkungsvoll praktiziert wird.
- Dazu braucht es in unseren Tagen Menschen, die Zeit, Ideen, Kreativität und Engagement für andere aufbringen, und die sich fragen, wie sie anderen beistehen und helfen können, wenn sie sich alleingelassen fühlen.
- Es braucht Menschen, die sich selbst und ihre Ideen nicht als absolut und dem Zeitgeist entsprechend ansehen, sondern die sich bewusst sind, dass – wie es im Bericht aus der Apostelgeschichte hieß – all das Gute im Grunde durch Jesus Christus und aus seiner Kraft heraus geschieht.
- Es braucht Menschen, die offen sind für das Leben um sie herum, so wie Jesus es gesagt hat: „Ich habe noch andere Schafe … auch sie muss ich führen“ und für sie sorgen.
Es braucht gute Hirten auf allen Ebenen – angefangen von den Familien, über die Betriebe, die Schule, die Vereine, die Politik, die Medien. Der Lebenswert und die soziale Kultur hängen von weit mehr ab als von dem Geld, das dafür zur Verfügung steht, es kommt vor allem auf das Zeugnis von vielen guten Hirten in unseren Tagen an!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Jesus Christus, du guter Hirte!
Dein Wort auf meiner Zunge.
Deine Güte auf meinen Lippen.
Deine Verheißungen in meinen Gedanken.
Deine Zärtlichkeit in meinen Fingern.
Deine Liebe in meinem Herzen.
Deine Entschlossenheit in meinem Handeln.
Dein Blut in meinen Adern.
Deine Kraft in meinen Füßen.
Deine Gestalt in meinem Leben.
Deine Herrlichkeit in meinem Leib.
Dein Leben in meinen Bewegungen.
Deine Hirtensorge in meinem Tun.
(Autor unbekannt)