„Was läuft falsch?“, so dass das Zusammenleben selbst in Familien immer gefährlicher wird und das Vertrauen in das Miteinander und in das Gemeinwesen zunehmend erschüttert wird? Vor diesem Hintergrund deutete er die Botschaft von Johannes dem Täufer, die am zweiten Advents verkündet wird.
Die Predigt im Wortlaut:
„Was läuft falsch?“, so fragte in der vergangenen Woche der Gastgeber am Ende des zu Herzen gehenden volkstümlichen Adventskonzerts, das ich in München genießen durfte. Daran beteiligt waren mehrere Musik- Gesangsgruppen aus Oberbayern.
„Was läuft falsch?“, so fragte er, weil einerseits die Musik und der Gesang das Herz wirklich zutiefst anrührten, 90 Minuten Besinnlichkeit schenkten und einfach guttaten. Dennoch müssen wir andererseits sagen: Die Realität, die Lebenswirklichkeit unserer Tage ist eine völlig andere.
Obwohl es uns materiell so gut wie keiner Generation vor uns geht, wird die Unzufriedenheit und auch die Zukunftsangst immer größer. Die kollektive Stimmung in der Gesellschaft schwankt von der Empörungsgesellschaft, die alles infrage stellt, bis zur immer stärkeren Depression, die mehr und mehr Menschen erfasst. Dazu tragen wesentlich die Massenmedien mit ihren Inszenierungen, ihrer gelenkten Kommunikation bzw. Pseudokommunikation bei. Sie beeinflussen erheblich das Bewusstsein und das Empfinden der Menschen.
Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat kürzlich festgestellt, dass seit dem Jahr der großen Einwanderung von Flüchtlingen das Vertrauen in die politische Stabilität „geradezu erdrutschartig verfallen“ ist. Damit ist die Zufriedenheit mit den Regierenden geschwunden. Fast die Hälfte der Befragten – 45 Prozent – bewerten den Staat inzwischen als „schwach“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich besorgt geäußert: „Wir dürfen nicht zulassen …, dass das Vertrauen in die Demokratie und den Rechtsstaat bröckelt.“
Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier sieht darin eine gefährliche Entwicklung. Er beklagt, dass geltendes Recht nicht mehr durchgesetzt beziehungsweise nicht mehr ernstgenommen wird. Subjektive und individuelle Vorstellungen treten an die Stelle des Gesetzes. Das betrifft nicht nur den Einsatz für ehrenwerte Anliegen wie den Schutz von Menschen mit Fluchterfahrung oder die Bewahrung der Schöpfung, wie auch der natürlichen Umwelt.
Willkür und Beliebigkeit gibt es in allen Lebensbereichen und betreffen insbesondere Entwicklungen, die das Recht aushöhlen wie z.B. die zunehmende Clan-Kriminalität und die sich ausbreitenden mafiösen Strukturen, die – wenn es sein muss – mit Macht Geld zu machen versuchen. Dazu gehören die Parallelwelten in Großstädten und Ballungszentren, aber auch die raffinierten Strukturen in der Finanzwelt, die den Fiskus und damit die Allgemeinheit schädigen.
Doch nicht nur durch schwere Rechtsbrüche wird der Rechtsstaat ausgehöhlt, sondern auch durch vermeintliche „Harmlosigkeiten“, die kaum jemanden beunruhigen. Im Gegenteil wird „ziviler Ungehorsam“, wenn damit eine vermeintlich bessere Gerechtigkeit durchgesetzt werden soll, im öffentlichen Meinungsbild gelobt. Dabei geht es nicht nur um die Streiks zur Unterrichtszeit oder Demonstrationen im Hörsaal von Universitäten gegen unliebsame Dozenten oder Referenten. Ziviler Ungehorsam mag in tyrannischen Systemen legitim sein, aber bei uns?
„Was läuft falsch?“, so lautete die eingangs gestellte Frage. Darüber nachzudenken lohnt im Zeitalter von Social-Media, wo sich die Massen durch die Betätigung von „Like-Buttons“ äußern können und Gesetze „zusehends zur Verfügungsmasse“ von „Bauchgefühlen“ werden, wie Hans-Jürgen Papier kritisiert, weil Leute meinen, aufgrund ihrer Moral und ihres subjektiven Gerechtigkeitsempfindens die bessere Wahrheit zu besitzen und zugleich jeden anders Denkenden massiv verurteilen. Auch positives Recht kann moralisch versagen, so wie Mehrheiten eines Volkes oder eines Parlaments in die Irre gehen können.
„Was läuft falsch?“, wenn einzelne Menschen sich mehr und mehr zu Herren über Gesetz und letztlich sogar über Leben aufschwingen – ob das die Durchsetzung eigener Interessen betrifft, die zunehmende Aggressivität und Gewalttätigkeit im Umgang miteinander oder die Bewertung menschlichen Lebens.
„Was läuft falsch?“, wenn der Einzelne sich zum Maß der Dinge erhebt, wie ich dieser Tage an einem Parkplatzstreit beobachten konnte.
„Was läuft falsch?“, so dass das Zusammenleben selbst in Familien immer gefährlicher wird?
„Was läuft falsch?“, so dass das Vertrauen in das Miteinander und in das Gemeinwesen zunehmend erschüttert wird?
Nach dem Desaster des Dritten Reiches mit dem verheerenden Zweiten Weltkrieg schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in der Präambel: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben.“
Damit bin ich bei der Botschaft des Zweiten Advents. Johannes der Täufer wurde nicht müde, die Menschen auf gefährliche Entwicklungen im Leben aufmerksam zu machen und sie hinzuweisen auf den Messias, den kommenden Gott, der ihrem Leben Wert und Würde schenkt. Sein bleibend gültiger Ruf lautet: „Kehrt um!“ und „Bereitet dem Herrn den Weg!“
Was für den Propheten Jesaja noch große Erwartung war, das hat sich in den Tagen des Johannes erfüllt: Es wird einer kommen, auf dem sich der Geist des Herrn niederlässt, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Wo das geschieht, finden Gegensätze zueinander, werden tödliche Gefahren gebannt, kann sich Leben entfalten, und Schöpfung und Geschöpfe im Frieden miteinander leben. In der Lesung haben wir gehört: „Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen.“
Wo Leben unmöglich schien, blüht es neu auf!
„Was läuft falsch?“ Ich fürchte, wir streiten über Auswirkungen und Symptome einer immer bedenklicheren Entwicklung, anstatt die Ursachen dafür zu identifizieren, nämlich den Verlust des Glaubens an Gott. Stattdessen ist die Suche nach Erfüllung und Halt in materiellen Werten gewachsen. Darum ist der Ruf von Johannes dem Täufer eine bleibende Herausforderung an jede und jeden von uns: „Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt …“
Eine Welt, die nicht ständig ihre Wege von Grund auf reflektiert und den Mut hat umzukehren, ist verloren. Umkehr, das griechische Wort hierfür „metanoia“, bedeutet, den Sinn, das Denken umwenden. Gerade jetzt, wo unser Zeugnis als Christen in der Welt so wichtig wäre, sind wir als Kirche mit uns selbst beschäftigt. Wir versuchen das menschliche Versagen in unseren eigenen Reihen aufzuarbeiten. Zugleich sind wir mit unseren Strukturen und Strategien vollauf beschäftigt, anstatt hinzuweisen auf den, der unserem Leben Hoffnung und Zukunft schenkt. „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“, rief Johannes der Täufer.
„Was läuft falsch?“ Ein Lippenbekenntnis zu Jesus und seiner Frohen Botschaft greift und überzeugt nicht. Es kommt darauf an, in unserem jeweiligen Verantwortungsbereich in der Kirche, in der Politik, in Wirtschaft und Wissenschaft, wie auch in Familie und Beruf, eindeutige Zeichen zu setzen. Das beginnt mit der Erziehung der Kinder, mit dem, was wir ihnen als wertvoll und wichtig vorleben und nahebringen. Das hat wesentlich mit den Gewichtungen zu tun, die in unserem Umgang mit den uns anvertrauten Möglichkeiten deutlich werden und wie wir unsere Verantwortung im Beruf wahrnehmen. Das drückt sich aus in unserem Denken und Reden über den Wert des Lebens in jeder Phase, in unserer Wertschätzung auch für kranke, gebrechliche, behinderte Menschen und grundsätzlich für Menschen in Not.
Gerade weil immer mehr Menschen enttäuscht und niedergeschlagen sind, weil auch die Zahl der psychisch Belasteten zunimmt, braucht es beherzte Mitmenschen, die aufstehen und der befreienden Lebensbotschaft und der ermutigenden Wegweisung Gottes Gehör verschaffen.
Es mag sein, dass mancher abwinkt, weil die Frohe Botschaft eine Herausforderung ist, immer wieder über das eigene Leben nachzudenken. Ja sie ist eine heilsame, wach rüttelnde Zumutung und keine verletzende und verächtlich machende Herausforderung. Deshalb brauchen wir sie.
In einer Rezension zu den Gedanken von Hans-Jürgen Papier steht zu lesen: „… und in der Politik brauchen wir wieder ‚Fähigkeiten und die Bereitschaft zu visionärer Führung und zukunftsorientierter Gestaltung‘. Nicht zuletzt aus einer christlichen Haltung, wie bei den Vätern und Müttern des Grundgesetzes.“
Ich habe eingangs von dem zu Herzen gehenden und wohltuenden Adventskonzert in der vergangenen Woche erzählt und der Frage am Schluss: „Was läuft falsch?“
Gerade weil die Spannung zu unserer Lebenswirklichkeit deutlich wird, sollte im Advent jede und jeder mit seiner Weg- und Lebenskorrektur beginnen. Die Adventszeit ist eine Chance, einem Leben und einem friedvollen Miteinander auf die Spur zu kommen, die Ahnung schenkt von einem verheißungsvollen Leben, von einem Leben mit Gott und deshalb mit Zukunft.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Herr,
ich sehne mich nach Menschen,
die das Wesentliche in mir wachrufen,
die mir helfen,
die Oberfläche zu durchstoßen
und die Tiefe zu entdecken.
Ich bitte dich um Menschen, Herr,
die so leben, wie du gelebt hast,
damit ich glauben kann, dass es dich gibt:
– das Wort das befreit,
– die Hand, die mich aufrichtet,
– das Licht, das die Finsternis erhellt,
– das Brot, von dem man leben kann,
– den Menschen, in dem Gott uns nahe war.
Viele brauchen einen Menschen,
vielleicht mich …