Die Predigt im Wortlaut:

„Was dürfen Pfarrer in der Christmette den Kirchgängern zumuten?“ So lautete am vergangenen Freitag die Überschrift auf der Titelseite des Aschaffenburger Main-Echo. Der Artikel berichtet von den Erwartungen der Gottesdienstbesucher. Denn jeder fünfte Bundesbürger will an Weihnachten einen Gottesdienst mitfeiern; einer repräsentativen Befragung zufolge sind es 21,6 Prozent der Bevölkerung. Bemerkenswert ist, dass es nicht vorwiegend ältere Menschen seien. Von der Generation Z, also den unter 30-Jährigen, ziehe es knapp 31 Prozent an Weihnachten in die Kirche.

„Was dürfen Pfarrer in der Christmette den Kirchgängern zumuten?“ Was darf über die besondere Gottesdienstgestaltung mit „Stille Nacht“ hinaus an christlicher Botschaft und Denkanstößen ausgesendet werden? Als vor wenigen Jahren die große Zahl an Menschen mit Fluchterfahrung zu uns kamen und viele Prediger an Weihnachten über die Herberge nachdachten, in der Gott Mensch geworden ist, wurde wochenlang in den Medien über den Sinn bzw. Unsinn politisch gefärbter Predigten diskutiert.

„Was dürfen Pfarrer in der Christmette den Kirchgängern zumuten?“ Das war und ist auch meine Frage bei der Vorbereitung dieses Gottesdienstes, in dem ich Ihnen und mir „frommes Blabla“, wie es in dem Artikel kritisiert wurde, ersparen möchte. Steffen Reiche, Theologe und ehemaliger Minister in Brandenburg, wurde zitiert: „Ich predige nie politisch, sondern gehe immer vom Wort Gottes aus und sage dann etwas zur Lage in der Welt.“

Was aber können wir als Kirche noch sagen? Papst Franziskus hat am vergangenen Samstag in seiner Ansprache an die Kurie im Vatikan erklärt: „Wir haben keine christliche Leitkultur, es gibt keine mehr! Wir sind heute nicht mehr die einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird.“ Im Blick auf diese Herausforderung wird der Titel seiner neuen Kirchenverfassung, die im Frühjahr 2020 veröffentlicht werden soll, lauten: „Praedicate evangelium“ – Verkündet das Evangelium, und das gerade jetzt in einer Zeit gewaltiger Veränderungen im Blick auf das Menschenbild, ebenso im Blick auf die familiären, gesellschaftlichen, ökonomischen und globalen Strukturen.

Zugleich mahnt Papst Franziskus die Kirche im Blick auf ihren eigentlich wichtigen Auftrag: „Wir brauchen daher einen Wandel im pastoralen Denken, was freilich nicht heißt, zu einer relativistischen Pastoral überzugehen. Das Christentum ist keine dominante Größe mehr, denn der Glaube – vor allem in Europa, aber auch im Großteil des Westens – stellt keine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens mehr dar, sondern wird oft sogar geleugnet, belächelt an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht.“

Also, „was dürfen Pfarrer in der Christmette den Kirchgängern zumuten?“ Der Papst macht darauf aufmerksam, dass die Kirche letztlich auf die Menschheit und ihre Anfragen antworten müsse. Er selbst fordert in diesem Zusammenhang von der Kirche einen verstärkten Dienst an Armen, Ausgegrenzten und besonders Migranten. Sie stellten „einen Schrei in der Wüste unserer Menschheit“ dar. Es gehe um „Brüder und Schwestern“, die von der globalisierten Gesellschaft ausgesondert würden. Die Kirche müsse Zeugnis dafür geben, „dass es für Gott niemanden gibt, der fremd oder ausgeschlossen ist“.

Wenn wir die Botschaft von Weihnachten ernst nehmen, dann müssen wir den Kirchgängern zumuten, dass es in der Geburt Jesu um die Menschwerdung Gottes geht und nicht um sentimentales Event unter roten Zipfelmützen. Es geht um den Menschen und sein Leben.
Wir erleben eine immer stärke Ökonomisierung des Lebens. Der Mensch wird schon vor der Geburt bewertet, ob er den perfektionistischen Vorstellungen eines idealen Menschseins genügt. Ebenso wird sein Wert im Laufe der Jahre von seiner Leistungsstärke her taxiert. In allen gesellschaftlichen Bereichen wird nicht gefragt, was hilft dem Menschen, sondern, was kostet das? Es wird nicht gefragt, was fördert das Miteinander, sondern auf welche Weise ist mehr herauszuholen und zu verdienen?

Deshalb meine Frage: Darf an Weihnachten den Menschen der Hinweis zugemutet werden, dass Gott sich selbst auf das schwache und hilflose Leben eingelassen hat, dass Gott selbst alles gegeben hat, um den Menschen seine Nähe zu schenken? Der schon erwähnte ehemalige Minister wird in besagtem Artikel zitiert: „Wenn Sie mit einem geliebten Menschen auf dem Sofa sitzen oder im Bett liegen, werden Sie auch nicht über Umweltfragen reden.“

In der Tat erleben wir in dieser Nacht Menschen, die rastlos und gehetzt sind von der Betriebsamkeit des Alltags, die z.T. mit Härte Geschäfte machen. Wir erleben Menschen, die oft wie abgestumpft scheinen für die Befindlichkeit anderer, die keine Zeit füreinander haben, ruhelos sind, Menschen, die fast immer eine Möglichkeit finden, sich andere und ihre Not vom Leib zu halten, wir erleben Menschen, die selten einfühlsame Worte für andere haben, die nicht zuhören können, die nur Zahlen, Fakten, Gewinn und Vorteil im Blick haben.
Viele von ihnen stehen an diesem Abend, in dieser Nacht vor der Krippe, sind zutiefst gerührt, ja in ihrem Innersten berührt und es fließen Tränen, wenn sie von dem Wunder dieser Nacht singen oder einander in die Arme schließen, einem Kind zuschauen, das sich riesig freut, oder wenn sie das dankbare Strahlen in den Augen eines alten und gebrechlichen Menschen wahrnehmen.

In solchen Momenten wird deutlich, in der Heiligen Nacht geht es um weit mehr als um eine vordergründige oder oberflächliche Sentimentalität, da geht es nicht um eine Perfektionierung menschlichen Lebens. In der Heiligen Nacht wird unser Herz berührt, wie es von Menschen nicht machbar wäre.
Menschen fühlen sich angenommen, wertgeschätzt und geborgen trotz all ihrer Fehler und Schwächen, auch mit all ihrer Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit und Unvollkommenheit. Das Wunder dieser Nacht liegt nicht in der Perfektion oder einer Inszenierung, sondern in der Schwäche, die zutiefst menschlich ist.

Genau diesen Hinweis und diese Botschaft gilt es an Weihnachten den Menschen zuzumuten und von daher die Frage, ob der Trip, auf dem wir derzeit sind, zu einem besseren Leben und Zusammenleben in dieser Welt führt.

Die Rahmenbedingungen für die Geburt Jesu waren alles andere als perfekt. Bei Maria und Josef schwingt unvorstellbar viel Unsicherheit mit. In ihrer Umgebung erfahren sie Ablehnung und landen am Rande, draußen vor der Stadt. Die ersten Kontakte sind Menschen, die nicht zur vornehmen Gesellschaft gehören. Aber gerade ihnen geht das Herz auf, und sie ahnen, dass mit dem Kind in der Krippe Licht in das Dunkel der Welt kommt, dass sich die große Erwartung der Menschheit erfüllt, wie sie der Prophet Jesaja beschreibt. Im Blick auf die Menschwerdung Gottes schreibt der Apostel Paulus an Titus: „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“

Gott kam in Jesus selbst in die Welt mit all ihren Spannungen und Konflikten, mit all ihren Sorgen und Problemen, mit all ihren Schreien nach Erlösung, um allen Menschen zu einem erfüllten und zufriedenen Leben zu verhelfen,

• indem ER den Mächtigen wie auch den Wohlhabenden den Blick weitet für eine tiefere Einsicht, was Leben bedeutet,
• indem ER Niedergedrückte, Mutlose und Enttäuschte aufrichtet,
• indem ER Schwachen, Gebrechlichen und Kranken heilsame Nähe schenkt,
• indem ER Schuldiggewordenen verzeiht und zu einem neuen Anfang verhilft,
• indem ER Menschen über kulturelle und soziale Grenzen hinweg zusammenführt,
• indem ER Hoffnungslosen das Herz weitet und ihre Zuversicht bestärkt.

Das alles ist zutiefst wertvoll für unser Leben und kann nicht einfach von Menschen gemacht werden, sondern nur aus einem Herzen kommen, das von Gottes Liebe berührt ist. Diese Botschaft ist den Menschen zuzumuten, wenn es wirklich um Weihnachten gehen soll!

Die Tränen dieser Nacht sind Zeichen, dass Menschen in ihrem Herzen berührt wurden, nicht weil die gekauften Geschenke so toll waren, sondern weil sie Gottes Nähe spüren durften, die sie in all den perfekt scheinenden, von Menschen gemachten Äußerlichkeiten nicht finden werden.

Weihnachten, die Menschwerdung Gottes in Jesus ist eine Zumutung für Menschen, die alles berechnen, die das Leben und das Zusammenleben nur durch die Brille der Ökonomie sehen. Sie werden diese Botschaft vom menschgewordenen Gott ablehnen.
Zugleich ist Weihnachten eine Ermutigung für Menschen, die darauf warten, dass jemand kommt und ihnen Halt und Orientierung schenkt und sie Sympathie und Menschenfreundlichkeit spüren lässt.
Wenn wir diese Botschaft den Menschen glaubwürdig verkünden, dann finden wir wieder Gehör und können die Kultur in der sich globalisierenden Welt mitprägen.

 
Text zur Besinnung

Wenn du dich satt gesehen hast
an dem Kind in der Krippe,
geh nicht fort.

Schau auch auf die,
die er um sich versammelt hat.

Bevor du gehst,
mach erst wieder
seine Augen zu deinen Augen,
seine Ohren zu deinen Ohren
und seinen Mund zu deinem Mund.

Mach seine Hände zu deinen Händen,
sein Lächeln zu deinem Lächeln
und seinen Gruß zu deinem Gruß.

Dann erkennst du in jedem Menschen
deinen Bruder, deine Schwester.

Wenn du ihre Tränen trocknest
und ihre Freude teilst,
dann ist Gottes Sohn wahrhaftig geboren.

Du darfst dich freuen,
alle Menschen können sich freuen,
können leben –
in dieser Nacht
und für immer.