Die Predigt im Wortlaut:
Wachsamkeit – so lautet die Forderung der Stunde!
Wachsamkeit verlangen die Ministerpräsidenten ebenso wie die Bundeskanzlerin, um die Menschen vor den körperlichen Gefahren des Coronavirus zu schützen.
Wachsamkeit – das ist der Appell der Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und all derjenigen, die sich durch die zum Teil empfohlenen, zum Teil verordneten Schutzmaßnahmen eingeschränkt fühlen und deshalb davor warnen, dass das Volk entmündigt und seiner Freiheiten beraubt würde.
Fakt ist, dass ein bislang unbekanntes Virus in seiner Wirkung unterschätzt und zunächst nicht beachtet wurde und sich schließlich zu einer Pandemie ausweitete, die das Leben und das Zusammenleben stark beeinträchtigt. Die Folgen davon sind – ob manche das wahrhaben wollen oder nicht – eine Gefahr für Leib und Leben. Für manche Betroffene bedeutet die Infektion eine bleibende gesundheitliche Schädigung, für manche sogar den Tod.
Die Folgen für die Ökonomie lassen sich in finanziellen Dimensionen nicht ganz ermessen.
Die Folgen in sozialer Sicht sind eine zunehmende Distanz, die viele Menschen einhalten, ebenso – nach anfänglich gegenteiligem Eindruck – eine nun spürbar nachlassende Bereitschaft zur Solidarität mit direkt oder indirekt Betroffenen. Wobei die Situation durchaus eine Chance sein könnte, dass die Menschheit zusammenrückt und sich im Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeiten eine stärkere Solidarität herausbildet. Deshalb ist es meines Erachtens fatal, dass Hunderttausende bei uns wie auch in anderen Ländern Verantwortungslosigkeit demonstrieren, weil sie nicht gewillt sind, sich und andere zu schützen – bis hin zu Aggressionen und den sich steigernden Gewalttätigkeiten ob an einer Ladenkasse, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder gegenüber Ordnungshütern.
Wachsamkeit ist die Botschaft der Stunde, deshalb frage ich mich: Wie weit wollen wir es kommen lassen? Nicht nur die sogenannten Querdenker bereiten Sorgen. Unerhört, wenn sich Einzelne mit großartigen Menschen wie Sophie Scholl vergleichen. Erschreckend, dass Gruppierungen die Unsicherheit von Menschen für ihre Polemik zu instrumentalisieren suchen. Schrecklich, wenn Lehrer, die sich für den Mund- und Nasenschutz auch in der Grundschule aussprechen, lauthals als Verbrecher bezeichnet werden. Schlimm, wie viele versuchen mit unrechtmäßigen Unterstützungsanträgen Nutzen aus der Situation zu ziehen. Genauso kritisch sehe ich die großen Versicherungsgesellschaften, die mit allen juristischen Tricks versuchen, sich ihrer Zuständigkeit zu entziehen, nur um keinen Ausfallschaden leisten zu müssen. Bedenklich ist, dass der erste spontane Applaus etwa für Pflegekräfte schnell verstummt ist und bei weitem nicht alle die versprochenen Anerkennungsleistungen erhalten. – Wie weit wollen wir es kommen lassen?
Wie steht es um die „Immunisierung“ gegen die gefährlichen Viren des Egoismus, der Verantwortungslosigkeit bis hin zum Hass? Es gibt nicht nur materielle, biologische Viren wie Corona, die unser Leben bedrohen, sondern ebenso vielfältige geistige Bazillen, die unser Herz und unser Denken befallen und krankmachen. In der Tat ist unsere Wachsamkeit für ungute Entwicklungen gefordert.
Wer am vergangenen Montag die Diskussion um Suidzidbeihilfe in „Hart aber fair“ verfolgt hat, wird sich vielleicht fragen, wie konnte es so weit kommen, dass das Bundesverfassungsgericht, wie Bischof Bätzing kritisierte, sich bei seinem Urteil so einseitig auf die Weltanschauung von Sterbehilfebefürwortern gestützt hat. Eine Abwägung zwischen den Grundrechten auf Selbstbestimmung und Lebensschutz habe, so Bätzing, offenbar nicht stattgefunden. Das Gericht habe damit eine Dynamik ausgelöst, die möglicherweise nicht mehr einzufangen sei, sagte er auch mit Blick auf die steigenden Zahlen aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden. Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, äußerte, dass Karlsruhe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben festgelegt habe, sei in Ordnung, dann merkte sie aber an, dass es aus ihrer Sicht ein Paukenschlag sei, weil die Richter dieses Recht schrankenlos und unabhängig von Alter oder Gesundheitszustand sähen. D.h., auch ein junger, kerngesunder Mensch kann für sich Suizidbeihilfe verlangen. Deutschland habe damit eine liberalere Regelung als alle anderen europäischen Staaten.
Wen wundert es, dass die Zuschauer bei einer Abstimmung während der Sendung zu 70,8 Prozent mit Ja stimmten und zu 29,2 Prozent mit Nein.
Wie sehr Wachsamkeit gerade auch in ethischen Fragen gefordert ist, zeigt die Antwort von Rudolf Henke, dem früheren Vorsitzenden des Marburger Bundes, der in einem Interview vor zwölf Jahren – wie ich nachgelesen habe – in der Entwicklung hin zur aktiven Sterbehilfe eine Gefahr für das Ethos des Arztes sah. Er äußerte sich damals so: „Der Sinn unseres Berufes würde zerstört, wenn wir damit beginnen, absichtlich zum Tod zu verhelfen. Deswegen wollen wir keine Lizenz zum Töten“.
Inzwischen geht es schon nicht mehr nur um die Sorge, „statt des Leidens den Leidenden aus der Welt zu schaffen“, sondern es als normal anzusehen, wenn z.B. ein junger Mensch – vielleicht nur aus Liebeskummer – nicht mehr leben möchte.
Wachsamkeit für den Schutz menschlichen Lebens ist wie am Ende auch am Beginn wichtig. Nachdem erst einmal der Damm zur Abtreibung gebrochen war, hat sich inzwischen sogar ein Unrechtsbewusstsein eingeschlichen. Ich erinnere mich sehr genau an einen entsprechenden Auftritt der damaligen Jugend- und Familienministerin während des Bundestagswahlkampfs 1972 in Aschaffenburg in der Herstallstraße. Jungen Menschen wurde gesagt, dass ihnen niemand abverlangen könne, ein Kind zur Welt zu bringen. Millionen von Kindern sind seither in unserem Land nicht mehr zur Welt gekommen und fehlen uns heute bitter.
Ebenso wird es sich bitter rächen, dass auch der Damm in Richtung Euthanasie gebrochen ist.
Wie notwendig Wachsamkeit ist, könnten wir jetzt noch an vielen weiteren Lebensbereichen bedenken. Wenn wir z.B. an die immer stärker ausgebreitete Forderungsmentalität denken, dann erinnere ich an einen Politiker, der vor etwa 50 Jahren sagte: „Man muss die Kuh melken, solange sie Milch gibt.“ Also wurde entsprechend Politik gemacht, indem man nicht nur berechtigte Verbesserungen einführte, sondern viele Annehmlichkeiten verteilte, und damit nicht nur die Staatskasse leerte, sondern auch eine nachhaltige Forderungsmentalität der Menschen gegenüber dem Gemeinwesen auslöste.
Seit meinem frühen Lateinunterricht hat sich mir das uralte lateinische Sprichwort eingeprägt: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ – „Was du auch tust, tue es klug und bedenke das Ende.“ Bedenke also, worauf dein Tun, deine Entscheidungen von heute hinauslaufen. Damit sind wir wieder bei der Wachsamkeit.
Die Wachsamkeit, zu der Jesus aufruft, ist keineswegs Untätigkeit, kein naives Hoffen auf bessere Zeiten, vielmehr ein sehr bewusstes Wahrnehmen von Verantwortung, ein sehr kluges und auf Zukunft hin bedachtes Handeln und zwar in allen Lebensbereichen. „Er übertrug allen Verantwortung … jedem eine bestimmte Aufgabe“, sagt Jesus. Das gilt für den Bereich der Ökonomie, der Ökologie, des Gemeinwesens, des sozialen Miteinanders und insbesondere für ethische Fragen, wie z.B. des Lebensschutzes. All das betrifft die Fragen nach dem Frieden in der Welt, es gilt aber auch für die Fragen nach dem Miteinander in unseren überschaubaren Städten und Gemeinden. Das gilt für die Frage nach der Zukunft unserer Kinder, unserer Alten, unserer Schwachen und Kranken, unserer Familien. Hinter der Frage nach der Zukunft, worauf wir zusteuern, steckt im Grunde die Frage nach dem Sinn des Lebens und fürwahr nicht nur darum, jetzt möglichst viel herauszuholen.
„Seid wachsam!“Das heißt nicht zu protestieren, sondern einen besseren, lebenswerteren Weg aufzuzeigen, bei dem wir wirtschaftlich vielleicht nicht unbedingt in der Manier „America first“ die Ersten sein werden, bei dem wir aber, was Menschenwürde, was die Bedeutung von Familie, was die Bildung, besonders die Herzensbildung der Kinder, was Sozialkultur und Arbeitsplatzsicherung, was Gerechtigkeit und ehrenamtliches Engagement betrifft, beachtenswerte Wege für ein Leben mit Zukunft – sogar über diese begrenzte irdische Zeit hinaus – aufzeigen. Hier wird deutlich, ob ich nur mit besseren Zahlen rechne oder mit IHM, dem Herrn, und auf SEINEM Weg, dem Weg der Frohen Botschaft, mit besserem Leben.
Wachsamkeit ist auch für uns in der Kirche das Gebot der Stunde. Wir sind intensiv bemüht, mit vielen strukturellen und organisatorischen Überlegungen die Kirche auf Zukunft hin handlungsfähig zu halten. Genau deshalb ist es entscheidend wichtig, welche Akzente wir jetzt setzen und welche Entscheidungen wir heute treffen, damit daraus eine Pastoral erwächst, die auch in den Veränderungen von Kirche und Gesellschaft die Sorge um das Leben aus dem Geist Jesu und seiner Frohen Botschaft deutlich macht und Hoffnung vermittelt. Es geht um entscheidend mehr als um funktionierendes kirchliches Management!
Die Adventszeit lädt uns ein, uns wieder neu auf den Weg zu machen und zu überlegen, was den Einzelnen und uns alle als Christen wirklich trägt und nährt, und zu versuchen, wachsam zu werden für das Eigentliche, für das, was von entscheidender Bedeutung für unser Leben ist.
Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Eine Kirche, die nicht auf die Wiederkunft des Herrn wartet, hat den Kern ihres Wesens, ihrer Kraft aufgegeben.“ Von dieser Erwartung her ist es wesentlicher Auftrag der Kirche, sich selbst und die Menschen danach zu fragen, worauf hin sie leben, um sie dann hinzuweisen auf die Fülle des Lebens, die Jesus verheißt.
Wenn die Erwartung auf IHN in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder wach wird, dann haben wir nicht nur eine gute Zukunft vor uns, sondern auch das Hier und Jetzt wendet sich zum Besseren. Dann werden wir gemeinsam – aktuell – nicht nur Corona, sondern auch andere Bedrohungen für das Leben und das Miteinander meistern, indem wir dem Auftrag Jesu folgen, in SEINEM Geist füreinander Verantwortung übernehmen und einander schützen. Es kommt also auf unsere Wachsamkeit heute an!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung nach der Kommunion
DU LICHT
Du Licht,
das uns durch dunkle Zeiten trägt,
das Ängste und Sorgen vertreibt,
das uns Hoffnung in der Bedrängnis gibt
und uns Rettung und Hilfe verspricht.
Komm!
Du Licht,
das den Neubeginn ankündigt,
das die Schrecken der Nacht bannt,
das den Morgen anbrechen lässt
und uns durch den Tag begleitet.
Komm!
Du Licht,
Leitstern durch unser Leben,
Kraftquell auf all unseren Wegen,
Orientierung und Ziel,
unser Heil, unsere Zukunft.
Komm!
Gisela Baltes