Die Predigt im Wortlaut:
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Diesen inzwischen weltberühmten Satz soll Michail Gorbatschow bei der Feier zum vierzigjährigen Bestehen der DDR im Blick auf die Erneuerung des politischen Systems zu Erich Honecker gesagt haben. Dieser wollte nicht auf die damaligen Friedensgebete und Montagsdemonstrationen in Leipzig und an weiteren Orten der DDR eingehen. Die Demonstranten forderten eine friedliche, demokratische Neuordnung, insbesondere das Ende der SED-Herrschaft, sowie Reisefreiheit und die Abschaffung der StaSi. Vier Wochen später, am 9. November 1989, wurde die Mauer regelrecht überrannt.
In Folge dieses historischen Ereignisses und seiner globalen Dimension löste sich der Ostblock auf. Aus der UdSSR wurde Russland, umgeben von vielen seither wieder eigenständigen Staaten. Der kalte Krieg war überwunden. Friedensstimmung breitete sich geradezu euphorisch aus. Verteidigungssysteme wurden abgebaut, Armeen – zumindest bei uns – verkleinert, Atomwaffen geächtet. Die Welt schien dem Frieden nahe.
Und heute? 36 Jahre später sind wir in größter Sorge. Die Bedrohung für Frieden und Freiheit kommt nicht nur aus anderen Kontinenten, in denen totalitäre Systeme herrschen. Der Krieg spielt sich vor unserer Haustüre ab. „Wenn die Ukraine fällt, wird Putin Polen angreifen und bis nach Berlin marschieren“, so die Sorge nicht weniger Politiker. Putin droht unverhohlen dem Westen wegen der Unterstützung für die Ukraine.
Was war passiert innerhalb einer Generation? Die Euphorie nicht nur über ein Europa ohne Grenzen, mehr noch über ein grenzenloses Leben hat den Blick eben auch für menschliche Schwächen genommen. Freiheit wurde mit absoluter persönlicher Freizügigkeit verwechselt, Liberalität zum Prinzip dafür, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Solidarität wurde der „Geiz ist geil“ – Mentalität geopfert. Humane Ideale wurden zur theoretischen Leitlinie, eine verbindlich geistige, religiöse Grundlage für das Miteinander wurde jedoch abgelehnt. Im europäischen Einigungsvertrag durften weder Gott noch der Hinweis auf die christlich-jüdisch-abendländischen Wurzeln vorkommen. Der Mensch selbst wurde mehr und mehr zum Maßstab und er maßt sich an, selbst Herr des Leben zu sein, am Anfang und am Ende sogar über Leben und Tod zu entscheiden. Das persönliche Glück und die Erfüllung werden in materiellem Genuss gesucht, immer weniger in der Freude am Miteinander und in der Sorge umeinander.
Die Erwartungshaltung an die Allgemeinheit, die für den Einzelnen zu sorgen hat, und die Forderungsmentalität wurden immer ausgeprägter. Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich für das Gemeinwesen zu engagieren, ging zurück. Mit geringer werdender Leistungsbereitschaft wuchs zugleich der Neid. Die Kirche, die zu bewusstem Leben und dabei zu Zeichen wie z.B. dem Freitagsgebot, der Fastenzeit oder zur Sonntagsruhe aufforderte, erntete Widerspruch: „Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich wann esse, wann ich tanze, wohin ich fliege!“
Weil aber jetzt viele eine Gefahr für sich selbst oder zumindest für den Lebensstandard sehen, neigen sie kurzfristig zu radikalen Lösungen: dem Einzelnen soll vorgeschrieben werden, was er darf und was nicht. Das Pendel wird aber schnell wieder in die andere Richtung ausschlagen, wenn die Bedrohung nachlässt. Es ist nun mal so: hinter den Zustimmungswerten bei aktuellen Umfragen z.B. zu politischen Forderungen, steht kein grundsätzliches Umdenken, sondern zumeist eine kurzsichtige Betrachtung und die Sorge um das eigene Wohlergehen.
Ebenso wird völlig übersehen, dass die Welt, die von vielen gerne bereist und von einigen ausgebeutet wird, auch mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Problemen in Bewegung gekommen ist und immer enger zusammenrückt – nicht nur im world.wide.web. Dennoch funktioniert Multi-Kulti nicht einfach auf Anordnung von oben. Jeder Mensch braucht seine Ge-wohn-heiten, seine geistig-geistliche und kulturelle Verwurzelung und Beheimatung. Dann ist er auch in der Lage, wirklich offen zu sein für andere, kann Gastfreundschaft leben und das Miteinander in aller Vielfalt im Respekt voreinander gestalten.
Schon vor dem Ukraine-Krieg und der dadurch ausgelösten Energiekrise wurden Abgrenzungen wie z.B. beim Brexit deutlich. Der Traum von einem gemeinsamen Europa zerplatzte. Immer mehr greift ein national verengtes Denken um sich und gewinnt an Zustimmung. Das ist, so sagte mir kürzlich ein erfahrener europäischer Politiker, die Antwort auf die unrealistischen Träumereien von einer in jeder Hinsicht grenzenlosen Welt.
Eine rein diesseitsbezogene Betrachtungsweise von Welt und Leben führt zu egoistischen, unmenschlichen und unseriösen Verhaltensweisen im zwischenmenschlichen, privaten Leben. Und ebenso führt es zu einem massiven und – wenn es sein muss – brutalen Streben nach wirtschaftlichem Vorteil. Wir brauchen nicht in andere Länder oder andere Kontinente zu blicken, wo Macht ausgeübt wird, um eigenwillige Politik zu inszenieren; erschreckend ist, dass dies teilweise sogar Zustimmung findet, auch wenn es zu Lasten von Teilen der jeweiligen Bevölkerung oder des friedlichen Miteinanders mit anderen Ländern geht.
In diesem Zusammenhang macht eine Aussage nachdenklich, die ich gelesen habe: Ein Islamforscher hat in einem Interview die Frage, warum sich sogar junge Menschen aus unserer Gesellschaft dem fundamentalistischen Islamismus zuwenden, so beantwortet: „Weil sie die Haltlosigkeit dieser Gesellschaft und ihrer oberflächlichen Lebenskultur satt haben.“
Sicher ist das kein Grund, andere Menschen zu töten oder ihnen mit Gewalt vorschreiben zu wollen, wie sie zu leben haben, aber es muss als Mahnung verstanden werden, dass Entscheidendes bei uns in Unordnung geraten ist.
Damit sind wir bei der Aussage Jesu im heutigen Evangelium: Im Bild sowohl des Turmbaus als auch der Kriegspläne macht Jesus deutlich, dass wir bei allem, was wir tun, klug bedenken sollen, worauf es hinausläuft. Im lateinischen Sprichwort heißt es so: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ –„Was du auch tust, tue es klug und bedenke das Ende“.
Diese Grundhaltung gilt in der Erziehung, im Umgang der Partner miteinander, in der Welt der Arbeit und Wirtschaft, in der Politik der Welt, einer Gesellschaft, einer Gemeinde, in Fragen der Ökonomie wie auch der Ökologie und der Ethik usw. – Es kommt im Leben auf den Weitblick an. Wer nur den Augenblick sieht, erkennt nicht rechtzeitig, wenn er in Gefahr ist, an die Wand zu fahren.
Wir beklagen heute z.B. den Fachkräftemangel in allen Berufen, ganz besonders schmerzlich in sozialen Diensten. Das ist die Auswirkung eines hausgemachten Problems, weil sich unser Volk vor Jahrzehnten entschlossen hat, keine Kinder mehr oder immer weniger Kinder haben zu wollen. „Ich investiere lieber in Wertpapiere, dann habe ich für das Alter ausgesorgt! Kinder kosten nur Geld!“ Jetzt fehlen die Kinder, denen das Geld zukommen könnte und die für die alt gewordenen sorgen würden! Das „Nur an sich und an den Augenblick denken“ wurde zur Grundhaltung.
Zunehmend mehr kluge Leute, die sich nicht aus materiellem Interesse mit unserem Leben und Zusammenleben befassen, fragen im Blick auf die immer selbstverständlichere Beliebigkeit, die das Tun und Verhalten der Menschen heute kennzeichnet, nach dem Plan für unsere Gesellschaft, nach der inneren Verfassung der Menschen. Kann das der alleinige Lebensinhalt sein, wie dieser Tage in der WELT zu lesen war, wonach vor allem Gen-Z-Eltern als Erziehungsziel nennen: „Spaß haben und Leben genießen“.
In der Lesung aus dem Buch der Weisheit haben wir gehört: „Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen, oder wer begreift, was der Herr will? Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen und einfältig unsere Gedanken …“ und „Wer hat je deinen Plan erkannt, wenn du ihm nicht Weisheit gegeben …“ und „die Menschen lernten, was dir gefällt; durch die Weisheit wurden sie gerettet.“
Aber selbst in Fragen des Glaubens basteln sich heute viele ihre eigene Religion zusammen. „Patchwork-Religion“ heißt es neudeutsch, wenn Menschen sich von jedem ein bisschen nehmen und glauben, so nach ihrer Fasson selig zu werden. Dabei entkräften sie völlig den Anspruch Jesu und seiner Botschaft. Sie reduzieren ihn vielleicht auf ein paar soziale Hinweise.
Dem widerspricht Jesus im heutigen Evangelium, wenn er konsequente Nachfolge fordert. Ganz gewiss will er die menschlichen Bindungen an Eltern und Geschwister nicht unterbewerten, aber er macht deutlich, dass über allem die Bindung zu Jesus stehen muss, die Bereitschaft IHM und SEINEM Weg zum Leben zu folgen.
Sein Kreuz zu tragen und ihm nachzufolgen, das kann z.B. bedeuten, den Mut zum Widerspruch aufzubringen – ob zu unguten Entwicklungen etwa im Leben von Heranwachsenden oder zu bedenklichen und besorgniserweckenden Entwicklungen in Gesellschaft und Welt.
Widerspruch geschieht gewiss oft durch klare Stellungnahmen, aber vor allem durch eine persönliche Haltung und Lebenspraxis, die nicht nur auf das eigene Wohl bedacht ist und für sich alle Vorteile herausholen will – gerade dadurch sollen Christen in der Welt auffallen.
Was sich derzeit in der politischen Entwicklung in unserem Land und in Europa abspielt, ist die Auswirkung der Denkweise der Entscheidungsträger und vor allem der Meinungsmacher. Gerade deshalb sollten sich Christen engagieren und mitwirken, das Miteinander der Menschen wie der Völker friedvoll und lebenswert zu gestalten, bevor auf uns der Satz zutrifft: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerburg.de
Text zur Besinnung
Das Kreuz des Jesus Christus
durchkreuzt was ist
und macht alles neu
Was keiner wagt, das sollt ihr wagen
Was keiner sagt, das sagt heraus
Was keiner denkt, das wagt zu denken
Was keiner anfängt, das führt aus
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben
Wenn alle mittun, steht allein
Wo alle loben, habt Bedenken
Wollen alle spotten, spottet nicht
Wo alle geizen, wagt zu schenken
Wo alles dunkel ist, macht Licht
(Lothar Zenetti)