Die Predigt im Wortlaut:
Klimawandel – Flutkatastrophe: zwei der beherrschenden Nachrichten dieser Tage! Was die Menschen ganz massiv in Oberfranken und noch schlimmer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen derzeit erleben bzw. erleiden müssen, führen viele Experten und Kommentatoren auf den Klimawandel zurück.
Nun bin ich kein Naturwissenschaftler und kein Experte, um den teilweise sich widerstreitenden sachlichen Diskurs über den möglichen Zusammenhang bewerten zu können. Deshalb möchte ich meine Gedanken zu dieser Situation überschreiben mit der These einer „überhitzten Gesellschaft“.
Mit Sorge beobachte ich, dass fast alle Vorgänge in unserem Land, wie z.B. die Themen „Klimawandel“, „Corona-Pandemie“, „Migration“, „Armut“, „soziale Gerechtigkeit“ , „Pflege“, „Kinderbetreuung“ ebenso „Arbeitszeit“, „Mobilität“ usw. meist in Extremen diskutiert werden. Selten erlebe ich eine Debatte, die von sachlichen Argumenten geprägt ist und ohne Emotionen nach guten Wegen sucht.
Die Not der Menschen z.B., die von der Flutkatastrophe betroffen sind, kann nicht mit wenigen Worten oder plakativen Sätzen erörtert werden. Ebenso ist es nicht möglich, kurz und knapp über die Denkweise von Corona-Leugnern und die Vorbehalte von Impfskeptikern zu reden. Als schlimm empfinde ich auf jeden Fall die sich steigernde aggressive Art der Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund wäre unsere aktuelle Situation meines Erachtens am ehesten mit „überhitzte Gesellschaft“ zu beschreiben. Und ich frage mich, wie wird die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs verlaufen?
Deshalb ist es sehr interessant, dazu die wichtigen Erfahrungen zu bedenken, die im Buch des Lebens, in der Bibel, reflektiert werden. Da fällt in diesem Zusammenhang das Wort „Sabbat“ bzw. seine Bedeutung auf.
„Sabbat“ heißt übersetzt „aufhören“, „Ruhe geben“, „ausruhen“. Oder anders ausgedrückt: Dinge tun, die dem Menschen zum Menschsein verhelfen. Damit wird etwas von dem gesellschaftlichen Stellenwert des Sabbats, d.h. des Sonntags für uns Christen, deutlich.
Als gemeinsamer Ruhetag, als Schutz der Arbeitenden unterbricht der Sonntag den Kreislauf von Arbeit und Konsum. Auf einem Plakat habe ich vor einiger Zeit gelesen: „Wann wollen Sie küssen, tanzen, frühstücken, beten, segeln, träumen, lieben .... wenn nicht am Sonntag!“
Unsere Verfassung spricht in diesem Sinn vom Sonntag als Tag der „seelischen Erhebung“. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik beziehen sich damit auf die menschliche Kulturgeschichte und die daraus gewachsene Erfahrung, dass der Mensch Pausen braucht, Zeiten, um zu sich selber zu kommen und auch mit anderen zusammenzukommen. Deshalb sollen wir das Einerlei von arbeiten, von sorgen und besorgen, von unruhig und geschäftig unterwegs sein unterbrechen. Alles Aufräumen und Vorbereiten, alles Wegschaffen und Vorplanen sollen wir einmal ruhen lassen und uns – wie Dorothee Sölle es sinngemäß einmal ausdrückte – an diesen ersten Morgen erinnern, an dem die Sonne aufging ohne Zweck und wir nicht berechnet wurden in der Zeit, die niemandem gehört außer dem Ewigen. So kann immer wieder Stille und Freude ins Leben und in die Welt einkehren.
Doch wir erleben unsere Tage zumeist ganz anders. Sonn- und Werktage ähneln einander immer mehr. Pausenlos, ruhelos ziehen sie dahin – rund um die Uhr Betriebsamkeit, Hektik, Programm auf allen Kanälen. „Wo es keinen Sonntag mehr gibt, gibt es nur noch Werktage!“
Vor kurzem bin ich an einem Sonntagnachmittag durch einen Ort gefahren, wo mir Leute aufgefallen sind, die an einem Haus handwerkliche Arbeit verrichteten.
Immer mehr nehmen wir Anzeichen wahr, die den Sonntag, seine besondere Bedeutung für unsere Gesellschaft und deswegen auch seinen Schutz aushöhlen. Und weil viele Menschen inzwischen mit dem Sonntag nichts mehr anzufangen wissen, hat sich die Freizeitindustrie seiner bemächtigt, um ihnen ihre vielfältigen Angebote zu machen und so diesen Tag gewinnbringend zu vermarkten.
Der Sonntag ist eigentlich der erste Tag der Woche, wir feiern ihn als das wöchentliche Osterfest, wir feiern den neuen Anfang, den Gott schenkt. Doch unsere Kalender kennzeichnen ihn inzwischen als den letzten Tag der Woche, und entsprechend wünschen wir uns – zumeist sehr gedankenlos – nicht „einen gesegneten Sonntag“, sondern „ein schönes Wochenende“.
Von daher beginnt dann die Woche für die meisten mit dem Montag, in den sie nach einem häufig stressigen – um in der gängigen Sprache zu bleiben – „Wochenende“ nicht ausgeruht und erholt, sondern müde und erschöpft gehen.
Als Christen feiern wir den Sonntag als Tag der Auferstehung. Dies bedeutet aber auch, dass die Frage des Sonntagsschutzes zunächst eine Anfrage an uns selbst ist: Geht von der Art und Weise, wie wir den Sonntag halten, noch eine „Strahlkraft“ aus, die in der Gesellschaft auffällt und sich wohltuend unterscheidet von der inzwischen üblichen Praxis?
Von dem inzwischen verstorbenen Theologen Johann Baptist Metz stammt die wahrscheinlich kürzeste Definition von Religion, nämlich „Unterbrechung“. Auch wenn – wie in der vergangenen Woche berichtet – immer mehr Menschen sich von den beiden christlichen Kirchen in unserem Land abwenden und nur noch 54 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Christen sind, dann stellt sich umso stärker die Frage, ob wir Christen mit unserem Welt- und Menschenbild und mit unserer Lebenshaltung wahrgenommen werden und in unserer Gesellschaft prägend wirken können?
Wird deutlich,
- dass wir unser Leben von Gott her und auf IHN hin ausgerichtet sehen?
- dass wir die Welt als SEINE Schöpfung erachten und SEINEM Auftrag entsprechend sie sorgsam hüten?
- dass wir nicht das Ende, sondern den immer neuen Anfang im Blick haben und deshalb den Aufstand zum Leben wagen?
- dass wir in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ handeln, wie es in der Präambel zum Grundgesetz steht?
Und damit komme ich zur Bedeutung des Sonntags für unsere gesamte, wie ich fürchte, „überhitzte Gesellschaft“. Um in all den Aufgaben und Herausforderungen des Alltags bestehen zu können, müssen der Einzelne wie auch die Gesellschaft insgesamt nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig zur Ruhe kommen können. Darum gilt es, den Sonntag jetzt nicht dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Lockdown zu opfern, sondern – im Gegenteil – ihn zu schützen, denn der Schutz des Sonntags berührt viele Bereiche:
- Es geht um den Einzelnen selbst, dass ihm der Freiraum bleibt, um zu sich selbst, zum Sinn seines Lebens zu finden und einen weiteren Horizont zu entdecken als ihn der Alltag bietet.
- Der Schutz des Sonntags ist verknüpft mit Fragen der Familie und ihrer gesellschaftlichen Wertschätzung. Wenn nämlich alle Familienmitglieder aneinander vorbeiarbeiten und vorbeikonsumieren, wird es immer schwieriger, ein Familienleben zu organisieren.
- Das Gleiche gilt für gemeinschaftliche Aktivitäten, vom geselligen Verein bis hin zum sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Engagement.
Es genügt nicht, nach einer Bürgergesellschaft zu rufen oder die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements herauszustellen. Es müssen auch die entsprechenden Rahmenbedingungen und Zeiten gesetzlich festgelegt sein, in denen Werte wie Eigenverantwortung und Verantwortungsübernahme für andere gelebt und erfahren werden können – auch schon für Kinder und Jugendliche.
Der Sonntag hat also eine sehr große und zentrale Bedeutung für unsere Gesellschaft. Wenn diese Erkenntnis als eine für alle verbindliche Wirklichkeit und damit die Mitte verloren geht, wird unsere Gesellschaft mehr und mehr, um das Wort Jesu aus dem heutigen Evangelium aufzugreifen, zu vergleichen sein mit Schafen, die keinen Hirten haben und sich deshalb zerstreuen.
Daher müssen wir uns die grundsätzliche Frage stellen: Wollen wir eine totale „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“, in der zu jeder Zeit jedem alles zur Verfügung stehen muss? Lassen wir es zu, dass Konsum und Umsatz die zentralen Werte in unserer Gesellschaft sind?
Um immer wieder inmitten all der Betriebsamkeit unserer Tage zur Ruhe zu kommen und den eigentlichen Sinn unseres Lebens nicht aus dem Blick zu verlieren, brauchen wir Ruhepausen und gemeinsame Erfahrungen. Genau deshalb lädt Jesus uns, wie damals die Jünger, ein, bei ihm auszuruhen. Das tun wir jetzt im Gottesdienst, und von da aus können wir dann aufeinander zugehen und das Leben genießen, und – wie seit den Zeiten der Urkirche – uns senden zu lassen zum Dienst am Nächsten. Es liegt an uns, welche Bedeutung wir diesem Tag geben und wie wir ihn begehen.
Als Christen müssen wir uns auch im Blick auf unsere Gottesdienste fragen: Werden sie noch als Zeiten und Orte der Freude und des Feierns erfahren? Ist bei unseren Glaubensfeiern die Fröhlichkeit des Sonntags spürbar? Jetzt dürfen wir wieder singen, deshalb die Frage: Welche Lieder singen wir? Welche Texte beten wir? Wird durch sie die Verheißung der Auferstehung spürbar? Wird durch sie unsere Verantwortung für das Leben, für die Schöpfung und die Mitmenschlichkeit deutlich? Gehen wir mit neuer, frischer Zuversicht vom Gottesdienst aus unseren Weg weiter, oder erfüllen wir allenfalls möglichst einfach und schnell die uns anerzogene und gewohnte Pflicht?
Diese Fragen sind wichtig. Denn die beste Wirkung für den Schutz des Sonntags wird dann erzielt, wenn für die übrige Gesellschaft sichtbar und erfahrbar wird, dass und warum es uns Christen wichtig ist, uns an diesem Tag zu besinnen, zur Ruhe zu kommen und ihn als einen Tag zu feiern, an dem die Erinnerung und Hoffnung auf Erlösung und Befreiung lebendig wird.
Jesus lädt seine Jünger, wie wir im Evangelium gehört haben, ein: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus!“ Das ist aber keine Aufforderung, sich abzuschotten in einen binnenkirchlichen Raum. Denn sogleich wird auch deutlich, dass Jesus einen wachen Blick für die Menschen hat. Als ER „die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange“, schreibt der Evangelist.
Unsere Gesellschaft ist „überhitzt“! Durch ihr Verhalten hat sie eine Vielzahl von Problemen selbst herbeigeführt. Sie kämpft mit vielen Herausforderungen – zumeist sehr kurzatmig. Ihr helfen wir, wenn wir ihr den Blick weiten für den Sinn und das Ziel unseres Lebens und wie wir von daher im Vertrauen auf Gott die Welt menschlich und lebenswert mitgestalten.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
„In der Ruhe liegt die Kraft“ – heißt es.
Aber zu selten suche und finde ich sie.
Ruhe ist mehr als nicht tätig sein.
Ruhe ist sich sammeln.
Der Psalmist weiß um die Ruhe, die Kraft schenkt,
deshalb betet er:
„Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe,
von ihm kommt mir Hilfe.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg;
darum werde ich nicht wanken.“
(Autor unbekannt)