Theresa Siedler: Was war der Anlass für die Gründung einer Ökumenischen Telefonseelsorge für die Region Untermain?
Knobling: Die Gründung geht auf den damaligen Diözesanbeauftragen Gutberg Klug zurück, der früh verstanden hat, dass die damals schon existierende Telefonseelsorge Würzburg zu viele Anrufe hat, um auch den Untermain gut bedienen zu können. Er hat sich deshalb sehr stark dafür eingesetzt, dass eine zweite und damit die Ökumenische Telefonseelsorge Untermain am 3. August 1998 in Aschaffenburg den ersten Anruf an- und damit ihren Dienst aufnehmen konnte.
Sind Sie seit Anbeginn dabei?
Knobling: Ja, ich bin sogar schon seit September 1997 für die Telefonseelsorge tätig, da für den Dienst am Telefon natürlich auch eine einjährige Ausbildung, die ungefähr 130 Stunden umfasst, Voraussetzung ist.
Wie läuft diese Ausbildung ab?
Knobling: Die Ausbildung findet über ein Jahr in einer Gruppe von etwa zwölf Personen statt. Wir beginnen die Ausbildung damit, dass jeder Teilnehmende zunächst einmal sein eigenes Leben näher beleuchtet – wir sprechen hier von Selbsterfahrung. Das hat den Hintergrund, dass sich Anrufende mit vielen Problemen an uns wenden, die vielleicht auch die Mitarbeitenden kennen. Daher sollen sie sich darüber im Klaren sein, wie sie mit dieser vielleicht bekannten Situation umgegangen sind und dass es für den Anrufenden möglicherweise andere Lösungsansätze gibt. Es geht bei der Selbsterfahrung auch darum, die eigenen Stärken und Grenzen zu kennen und sich so anzunehmen lernen.
Und wie geht es weiter?
Knobling: Auf den Schwerpunkt „Selbsterfahrung“ folgt die „Gesprächsführung“. Dabei lernen die späteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie ein Telefonat beginnen, die Anrufenden während des Telefonats begleiten und das Gespräch beenden. Sie lernen, dass es ihre Aufgabe am Telefon ist, Menschen zu entlasten und sie – insofern sie es wünschen – zum Finden ihrer eigenen Lösung zu begleiten. Das bedeutet also nicht, dass die Beraterinnen und Berater den Anrufenden nach fünf Sätzen im Telefonat ihre eigene Lösung für das Problem erklären, sondern die Fähigkeit der Anrufenden zu ihrem eigenen Weg zur Problemlösung wecken.
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt in der Ausbildung zum Telefonseelsorger ist die „Hospitation“. Dabei lernen die Auszubildenden von erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wie diese sich am Telefon in den jeweiligen Situationen verhalten. Die Erlebnisse während dieser Hospitation werden in der Ausbildungsgruppe reflektiert, sodass hier jeden von jedem lernen kann.
Und der dritte Schwerpunkt in der Ausbildung?
Knobling: Schließlich geht es noch um die Vermittlung theoretischen Wissens. Hier lernen die Auszubildenden unter anderem, was eine Panikattacke ist, wie man mit Menschen umgeht, die eine psychische Erkrankung haben oder den Umgang mit suizidalen Krisen.
Unsere Ausbildung ist prozessorientiert, das bedeutet, dass wir auch auf Themen eingehen, die entweder gerade sehr aktuell sind oder die den jeweiligen Auszubildenden in besonderer Weise interessieren.
Und nach der Ausbildung?
Knobling: Da die Ausbildung für die Auszubildenden kostenlos ist, verpflichten sie sich, nach ihrer Ausbildung mindestens drei Jahre bei der Telefonseelsorge mitzuarbeiten. Aus meiner langen Erfahrung weiß ich aber, dass die meisten viel länger bleiben. Wir haben Mitarbeitende, die mittlerweile schon 15, 20 oder sogar schon 25 Jahre dabei sind. Zudem verpflichten sich die Mitarbeitenden, regelmäßig an Supervisionen teilzunehmen, um sich selbst zu entlasten und sich stetig weiter zu qualifizieren.
Wie läuft der Dienst bei der Telefonseelsorge ab?
Knobling: Die Mitarbeitenden leisten zwölf Stunden pro Monat ihren Dienst. In diesem Rahmen übernehmen sie mindestens jeden zweiten Monat einen Nachtdienst. Da wir rund um die Uhr für unsere Anrufenden erreichbar sind, müssen auch diese Zeiten abgedeckt sein.
Startet in jedem Jahr ein neuer Ausbildungsjahrgang?
Knobling: Ein neuer Ausbildungskurs startet bei uns etwa alle 1,5 Jahre. Im Frühjahr dieses Jahres hat ein neuer Ausbildungsjahrgang begonnen. Der nächste Ausbildungskurs beginnt voraussichtlich im Herbst 2024.
Jetzt haben wir viel über die Menschen gesprochen, die die Anrufe bei der Telefonseelsorge annehmen. Wenden wir uns jetzt doch auch einmal den Personen zu, die bei Ihnen anrufen: Wie viele Personen meldeten sich in den letzten 25 Jahren?
Knobling: In den letzten 25 Jahren meldeten sich etwa 400.000 Ratsuchende bei der Ökumenischen Telefonseelsorge Untermain. Pro Jahr rufen in den letzten Jahren etwa 12.000 Menschen an.
Was sind die häufigsten Probleme, weswegen Ratsuchende anrufen?
Knobling: Man muss trennen zwischen Anrufenden und solchen, die sich über den Chat an uns wenden: Anruferinnen und Anrufer sind meist zwischen 40 und 69 Jahren alt und in etwa jedem dritten Gespräch ist „Einsamkeit“ das Thema. Da melden sich Menschen, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Telefon erzählen, dass sie seit zwei oder drei Tagen zum ersten Mal wieder mit jemandem sprechen …
Für 20 Prozent der Anrufenden sind körperliche Beschwerden wie Krankheit der Grund für ihren Anruf. Genauso viele wenden sich wegen psychischer Beschwerden an unsere Beraterinnen und Berater. Ganze sieben Prozent der Anruferinnen und Anrufer melden sich mit Suizidgedanken oder Suizidabsichten, das bedeutet, eins bis zwei solcher Gespräche am Tag.
Mit dem Chatangebot erreicht die Telefonseelsorge zum Großteil Menschen in der ersten Lebenshälfte, also etwa im Alter von 15 bis 39 Jahren. Mit 38 Prozent der Chattenden schreiben wir über suizidale Gedanken und Absichten – oft auch kombiniert mit Ängsten, schweren Trauma-Erfahrungen oder instabilen Selbstbildern. Weitere häufige Themen sind depressive Verstimmungen, Paarbeziehungen und Trennungen.
Was hat sich in dieser Hinsicht in den letzten 25 Jahren verändert?
Knobling: Die Problemlagen sind komplexer geworden, da die Lebenssituation vieler Menschen heute ungewisser ist. Bei einem Jobverlust war vor 20 Jahren die Wahrscheinlichkeit höher, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das ist heute ab einem bestimmten Alter anders und so entstehen weitere Probleme, beispielsweise in der Ehe, finanzielle Ängste oder Selbstwertprobleme.
Junge Ratsuchende thematisieren seit der Coronapandemie und dem Krieg in der Ukraine Zukunftsängste, Selbstzweifel, psychische Probleme. Diese Zukunftssicherheit gab es früher in dieser Häufigkeit noch nicht.
Seit dem letzten Jahr gibt es bei der Ökumenischen Telefonseelsorge Untermain auch einen Förderverein. Was hat es damit auf sich?
Knobling: Die Telefonseelsorge macht aufgrund der Schweigepflicht und Anonymität eine doch sehr unsichtbare Arbeit. Mit dem Förderverein haben wir nun die Möglichkeit, unsere Arbeit auch in der Öffentlichkeit sichtbarer werden zu lassen. Zudem können über den Förderverein Gelder für unsere Arbeit, beispielsweise für die Finanzierung von Fortbildungen für unsere Ehrenamtlichen, generiert werden. Auf den Punkt gebracht: Die Ziele des Fördervereins sind Öffentlichkeitsarbeit und finanzielle Unterstützung der ehrenamtlichen Arbeit.
Wir haben nun auf die letzten Jahre der Telefonseelsorge zurückgeblickt. Aber was wünschen Sie sich denn für das nächste Vierteljahrhundert?
Knobling: Ich glaube, für die nächsten 25 Jahre ist es weiterhin wichtig, ökumenisch zu arbeiten. Wir wollen auch jüngere Menschen und Menschen aus anderen Ländern für die Arbeit bei uns begeistern. Ich wünsche mir zudem, dass wir die Arbeit der Ehrenamtlichen weiterhin finanziell so ausstatten können, dass sie gut ausgebildet, supervidiert und weitergebildet werden können. Unsere Erfahrung ist, dass qualitativ gute ehrenamtliche Arbeit ausreichen hauptamtliche Unterstützung und finanzielle Ressourcen braucht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Theresa Siedler