Religion sei kein Erziehungsziel, sondern ein Erziehungsmittel, erklärte Prof. Dr. Martin Lechner der Arbeitsgemeinschaft katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe und Jugendsozialarbeit in der Diözese Würzburg (AGkE). Fast fünfzig Einrichtungen gehören der Arbeitsgemeinschaft unter dem Dach des Diözesan-Caritasverbandes an. Zu ihrer Mitgliederversammlung im Kloster Himmelspforten hatten sie mit Professor Lechner von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benediktbeuern den bundesweit einzigen Lehrstuhlinhaber für Jugendpastoral eingeladen. Mit ihm und seiner Doktorandin Angelika Gabriel diskutieren sie, wie Jugendliche Religion sehen und wie Religion in die Erziehung junger Menschen eingebunden werden kann.
Gute Erziehung erzieht nicht zum Glauben, sondern aus dem Glauben heraus. Glaube gleich welcher Art - so Lechner - sei bei allen Menschen ein wichtiger Baustein ihres Selbstverständnisses. Jeder glaube an etwas. Jede Religion verheiße ein ewiges Leben, Begriffe wie Hoffnung und Zukunft seien daher untrennbar mit Religion verbunden. Im gleichen Maße, wie die Kirchen immer leerer werden und die Bindung der Bevölkerung an die Amtskirche schwindet, wächst das Interesse an Religion. In Medien und Werbung, auf Theaterbühnen und in Filmen werden immer häufiger religiöse Inhalte thematisiert oder religiöse Motive umgesetzt. Und gleichzeitig, so Lechner, bilde sich ein immer stärkerer Atheismus. Durch die wachsende Individualisierung unserer Gesellschaft entscheide heute jeder selbst, ob er sich einer Kirche zugehörig fühle. Die Kirche hat darauf nur noch wenig Einfluss.
Religion ein Baustein unserer Gesellschaft
Religiöse Erziehung ist für Lechner ein wichtiger Baustein in unserer Gesellschaft. Kinder hätten ein Recht auf Religion und die Begleitung bei Fragen religiöser Natur. Hierzu gehören z.B. Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Recht und Unrecht, nach Ethik und Moral. Zudem funktioniere eine multikulturelle Gesellschaft, wie sie sich in Europa immer mehr durchsetze, nur bei Toleranz und Verständnis für andere Kulturen und Religionen. Ohne Kenntnisse von Religion blieben einem viele Aspekte europäischer Kultur und Geschichte unzugänglich. Und Religion sei auch nötig, um Solidarität, ein soziales Gewissen und eine Lebensfähigkeit zu entwickeln. "Leider aber ist Jugendpastoral in Deutschland ein völlig vernachlässigtes Feld in der Theologie. Neunzig Prozent der Diplom-Theologen werden für den Schuldienst ausgebildet, die anderen zehn Prozent für Erwachsenenkatechese". Jugendpastoral, wie es gerade Einrichtungen der Jugend- und Erziehungshilfe benötigen, finde hingegen nicht statt, bedauerte Lechner.
Um hier Jugendliche für Religion gewinnen zu können, müsse man mit ihnen erst erarbeiten, was sie unter Religion verstünden. Lechners Assistentin Angelika Gabriel stellt hierzu eine neue Studie vor. In vierzehn Jugendhilfeeinrichtungen in ganz Deutschland hatte sie Jugendliche aufgefordert, Religion zu definieren und religiöse Motive zu fotografieren. Hierbei wurden nicht klassische Motive wie Kreuze oder Kirchen gesucht, sondern Gegenstände oder Personen, die den Jugendlichen heilig sind, die sie verehren, die ihnen Schutz und Sicherheit geben. Heraus kamen Bilder wie ein Telefon - um Kontakt zur Mutter zu halten, eine Kugel in der Hand - als Welt, die man trägt, ein Computer - "der immer für mich da ist", Treppen - als Hürden im Leben, ein Zimmer - als Zufluchtsstätte, Freunde - als Bezugspersonen, eine Mülltüte - für den ganzen Mist im Leben, eine Halskette der Oma - als liebevolles Geschenk, ein Bild der Eltern - als Bindung an die Familie, ein Glücksbringer, Rettungsringe, Naturbilder als Ruhepol und auch einige wenige Kreuze oder Heiligenfiguren. "Jugendliche", erklärte Gabriel, "sehen Religion völlig anders, als in der Schule gelehrt wird. Mit herkömmlichen Religionsbegriffen können sie nichts anfangen und als religiös würden sie sich auch nicht bezeichnen". Der Wunsch nach Glaube, Liebe, Hoffnung, nach Zukunft und Geborgenheit - typische christliche Begriffe - sei bei ihnen aber genauso präsent. "Religion ist für sie mehr als die Institution Kirche. Da müssen wir sie abholen, wenn wir sie gewinnen wollen".