Als Christen „müssen wir immer wieder auf diese entscheidende Grundlage für ein menschliches und menschenwürdiges Miteinander hinweisen, von dem aus gerechte und gute Regelungen für die vielen Fragen des Lebens und des Zusammenlebens gefunden werden können … Von der Liebe Gottes geleitet, werde ich nicht Falsches sagen, auch wenn mancher das nicht hören will!“
Die Predigt im Wortlaut:
„Cancel Culture“ – ein inzwischen gewichtiger, um nicht zu sagen gewaltiger Begriff in unserer Sprache.
„Cancel Culture“ ist nach der Definition von Wikipedia ein politisches Schlagwort, mit dem übermäßige Bestrebungen zum Ausschluss von Personen oder Organisationen bezeichnet werden, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen werden.
„Cancel Culture“ hat sich zuletzt infolge der „Me-too-Bewegung“ sowie der „Black-lives-matter-Bewegung“ stark verbreitet und gewinnt auch im Zusammenhang mit der Umwelt- und Klimabewegung an Bedeutung.
Der Begriff gilt allerdings als ambivalent und ist immer stärker umstritten im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die sogenannte „Political Correctness“: Was darf noch gesagt werden und was nicht? Nicht selten wird damit eine unpopuläre Meinung sofort disqualifiziert und unterdrückt, selbst wenn sie nichts Menschenverachtendes oder Schlimmes, im Gegenteil sogar wertvolle und deshalb wenigstens bedenkenswerte Impulse beinhaltet.
„Cancel Culture“ wird mit Vorliebe in sozialen Medien betrieben, ist aber auch in den meisten Kanälen von Fernsehen und Hörfunk und in fast allen Redaktionsstuben der gedruckten Blätter verbreitet.
„Cancel Culture“ – der Haltung, die dahinter steht, wird inzwischen von kritischen Geistern zunehmend häufiger Intoleranz gegenüber Meinungen jenseits eines suggerierten Mainstreams vorgeworfen.
Immer stärker drängt sich die Frage auf: Wer darf was sagen, ohne dass er sofort an den öffentlichen – in unseren Tagen also medialen – Pranger gestellt wird? So habe ich an Christi Himmelfahrt die Kritik eines liberalen Politikers gelesen, der sich darüber echauffiert, dass eine andere Partei über ihre sozialen Medien allen – das sind die Nutzern ihrer Medien – einen gesegneten Festtag Christi Himmelfahrt wünschte und dazu das passende Wort aus dem Markusevangelium zitierte. Das sei eine Vereinnahmung und parteipolitische Instrumentalisierung Jesu. Gewiss hätte es nicht sein müssen, dass in der angefügten künstlerischen Darstellung von der Himmelfahrt rechts unten das Parteiembleme eingefügt war. Wie auch immer – es sollte möglich sein, dass Politiker, egal welcher Partei sie angehören, den Wunsch für einen gesegneten christlichen Feiertag öffentlich aussprechen, wenn es ihrer Überzeugung und ihrem Glauben entspricht.
„Cancel Culture“ wird andererseits nicht betrieben, d.h., es wird keine Kritik geäußert, wenn Repräsentanten des Staates oder Parteienvertreter zum Ende des Ramadan gratulieren oder – auch wenn sie keine Muslime sind – das Fastenbrechen mitfeiern und sich dabei fotografieren lassen. Wie wäre wohl die veröffentlichte Reaktion, wenn Repräsentanten des öffentlichen Lebens sich fotografieren ließen, wenn sie z.B. an Weihnachten, Ostern oder Pfingsten einen christlichen Gottesdienst mitfeierten? Welcher Politiker traut sich noch bei einer Prozession, also einer öffentlichen Demonstration unseres Glaubens – wie z. B. an Fronleichnam – mitzugehen? Dagegen würde eher das Fernbleiben eines Politikers bei einer Umweltdemo oder einer Aktion wie des Christopher-Street-Day kritisiert. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, ich bin nicht gegen die Teilnahme von Politikern an den genannten Veranstaltungen, es geht mir um die Frage: Warum wird ein Bezug zu kirchlichen Ereignissen sofort kritisiert?
Mehr und mehr ist es allein der Mensch, der die Linie vorgibt, was gedacht, gesagt und getan werden darf! Die Geschichte allerdings zeigt, dass aus den menschengemachten Ideen schnell Ideologien werden, die irgendwann auf den Menschen selbst zurückfallen. Als nach dem Desaster des Dritten Reiches beherzte Menschen – zumeist überzeugte Christen – darangingen, die Grundlage für eine lebenswerte und friedvolle Zukunft zu schaffen, haben die Väter und Mütter das Grundgesetz formuliert und dieses eingeleitet mit dem Satz der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben“
Wie wichtig der über menschliches Wollen hinausreichende Bezug zu Gott ist, wird uns in Europa deutlich. Beim Europäischen Grundlagenvertrag wurde bewusst auf den Bezug zu Gott verzichtet. Ob es nun um die gleichwertigen Lebensverhältnisse, um den Lebensschutz wie auch die Bewahrung der Schöpfung oder die Sorge um Menschen geht, die aus Not oder vor Gefahr Zuflucht in Europa suchen: Es fehlt die gemeinsame Verantwortung vor Gott und den Menschen. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche steht im Vordergrund; von daher herrscht im ethischen Bereich Pragmatismus und Nützlichkeitsdenken.
Die Pfingstaktion „Renovabis“, um deren Unterstützung wir am kommenden Sonntag, am Pfingstfest, gebeten werden, steht in diesem Jahr unter dem Leitwort: „DU erneuerst das Angesicht der Erde. Ost und West in gemeinsamer Verantwortung für die Schöpfung“.
„DU erneuerst das Angesicht der Erde“ durch deinen Geist, der in und durch Menschen wirkt. Deshalb betet Jesus, wie uns im Evangelium verkündet wurde: „Ich habe ihnen dein Wort gegeben und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. … Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt.“
Die Kirche ist von Jesus in die Welt ausgesandt, um in Wort und Tat Zeugnis zu geben für die Wahrheit, für die Frohe Botschaft, die uns Wegweisung und Orientierung ist. Deshalb dürfen wir uns – um Himmels Willen – nicht zurückziehen in einen kleinen, überschaubaren Bereich, in dem wir unter uns sind. Wir sind gesandt zu den jungen Familien und ihren Kindern, zu den Jugendlichen, die nach dem richtigen Weg für ihr Leben suchen oder der Unterstützung bedürfen, um die Schule zu meistern oder einen Beruf zu erlernen, zu den Heranwachsenden, die kein tragfähiges familiäres Umfeld haben, zu denen, die unter die Räder gekommen sind und nicht weiterwissen, zu den psychisch Belasteten, zu den materiell Armen, den Obdachlosen, zu den Heimatsuchenden, zu den Überforderten und Gescheiterten, zu den Menschen mit Behinderungen, zu den Hilfs- und Pflegebedürftigen, zu den Sterbenden und Trauernden.
Um Himmels Willen dürfen wir uns nicht zurückziehen und uns mit ein bisschen Mehr an ehrenamtlicher Hilfe begnügen. In dem heute in manchem Bereich umkämpften sozialen Markt müssen wir als Kirche in der Qualität und in der Verlässlichkeit, also in der erforderlichen Professionalität und in der Verlässlichkeit unserer Dienste für die Menschen deutlich machen, wie wir die Würde von Menschen verstehen und nicht nur darauf bedacht sind, Geld zu verdienen. Umkämpft durch einen z.T. harten Verdrängungswettbewerb sind die sozialen Arbeitsfelder, die Gewinne versprechen. Viele Dienste dagegen, für die es kein Entgelt gibt, wie z.B. in der Armenfürsorge oder beim Lebensschutz, bleiben uns als Caritas der Kirche, weil wir hierzu eigenes Geld, d.h. das Geld, das uns durch die Kirchensteuer zukommt, mitbringen.
„Cancel Culture“ erfahren wir als Caritas der Kirche auch hier, weil wir z.B. in der Pflege seit langem den Pflegekräften ein höheres Entgelt zahlen und bei dem kürzlich geforderten Flächentarifvertrag in der Pflege deshalb nicht zugestimmt haben, weil es unsere Pflegekräfte schlechter gestellt hätte gegenüber dem, was sie jetzt schon erhalten.
„Cancel Culture“ – lange bevor dieser Begriff in unseren Sprachgebrauch kam, kannte jeder von uns das Wort „abkanzeln“. Von der Kanzel, also von oben herab, wurden mit harschen Worten im Gottesdienst Menschen zurechtgewiesen oder – wie es im Wörterbuch steht – „ausgeschimpft, demütigt, kritisiert, niedergemacht, gerügt, getadelt, verunglimpft“.
Diese von einzelnen Vertretern der Kirche immer wieder geübte Praxis hat dazu beigetragen, dass sich Menschen von der Kirche abgewandt haben. Die Kirche bzw. ihre Vertreter haben hoffentlich daraus gelernt, wie sie mit den Menschen umgehen sollten. Das betrifft auch die Kultur innerhalb der Kirche, insbesondere den Dialog zwischen unterschiedlichen Auffassungen zu Glaube, Glaubensbotschaft sowie Glaubens- und Lebenspraxis.
Und wenn sich heute kluge Köpfe kritisch über „Cancel Culture“ äußern, dann werden offensichtlich mehr und mehr Menschen wach und lassen sich nicht einfach im Mainstream der gängigen und veröffentlichten Meinung mittreiben. Diese klugen Köpfe betonen das Recht jeder guten und das Leben fördernden Äußerung.
Unsere Verfassung, unsere Demokratie sind nicht, wie manche uns weißmachen wollen, vom wertneutralen, weltanschauungsneutralen, religionsneutralen säkularen Himmel gefallen. Sie kamen aus dem christlichen Glaubensbewusstsein für einen wahren, wirklichen, tatsächlichen Himmel, der unserem Leben Sinn und Ziel gibt.
Das im Grundgesetz niedergelegte Zusammenwirken von Kirche und Staat zum Wohle der Menschen sichert auch künftig Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Dazu hält die Kirche in der Gesellschaft vor allem konkreten Wirken für die Menschen die Erinnerung an Gott wach und bezeugt SEINE Nähe durch ihren Einsatz.
Deshalb müssen wir immer wieder auf diese entscheidende Grundlage für ein menschliches und menschenwürdiges Miteinander hinweisen, von dem aus gerechte und gute Regelungen für die vielen Fragen des Lebens und des Zusammenlebens gefunden werden können – ganz im Sinne der heutigen Lesung aus dem ersten Johannesbrief: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ Von der Liebe Gottes geleitet, werde ich nicht Falsches sagen, auch wenn mancher das nicht hören will!
Weder „Cancel Culture“ noch „abkanzeln“ entsprechen der Haltung Jesu, mit der ER uns sendet, vor aller Welt Zeugnis für IHN zu geben!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
„Ich will, dass sie meine Freude in Fülle in sich haben.“
Das ist der Wunsch Jesu für die Menschen.
Es kein frommer Wunsch,
denn Jesus spricht ihn aus
im Angesicht seines kommenden Leidens und Sterbens.
Wir können sagen: Für die Menschen Freude in Fülle
ist das Testament Jesu.
Jesus ist nicht gekommen,
um uns das Leben schwer zu machen.
Die Lasten des Lebens werden uns nicht erspart bleiben,
aber Jesus bürdet sie uns nicht auf,
sondern trägt sie mit uns.
Und manchmal trägt er sogar uns selbst
- aus Liebe!
Autor unbekannt