Marcel trägt große Schaumstoffbausteine in die Mitte des Turnraums. Einen nach dem anderen türmt er zu einem großen Haus auf. Es macht dem 16-Jährigen sichtlich Mühe, aber die Kinder der Grünen Gruppe des Kindergartens Mosaik helfen dem fröhlichen Teenager tatkräftig beim Bauen, bevor sie sich in dem gemeinsamen Bauwerk verstecken und das Spielhaus unter fröhlichem Lachen wieder zum Einsturz bringen.
Für Kinder und Erzieher der Grünen Gruppe ist Marcel eine neue Erfahrung. Sie hatten schon Integrationskinder, aber noch nie einen Praktikanten mit Handicap. Die 22 Kinder und die Erzieherkräfte haben keine Berührungsängste. „Marcel macht es uns allen leicht. Er ist ein sehr offener und fröhlicher Junge, der viel wissen möchte und sehr gezielt Fragen stellt“, stellt Erzieher Patrick Fath fest. Sind die Kinder versichert, wenn sie außerhalb des Kindergartens unterwegs sind oder wie verhält man sich, wenn sich ein Kind verletzt, will der Pflaumheimer wissen. „Er ist ohne Scheu auf die Kinder zugegangen und die Kinder nehmen Marcel so wie er ist. Als völlig normalen Jungen“, lächelt der 33-jährige Erzieher stolz. Dazu habe sicher auch das Gruppenkind Mercedes beigetragen, das mit Marcel quasi unter einem Dach wohnt. Ihre Eltern waren es, die den Kontakt zwischen Kindergarten und dem Großostheimer Schüler hergestellt haben.
Freimütig erzählt der 16-Jährige, dass seine Behinderung durch ein Blutgerinnsel im Kopf entstanden ist. Damals war er neun Jahre alt. Mehrere Operationen, Intensivstation und Rehabilitation folgten. Trotz der Behinderung weiß Marcel Becker genau, was er will. „Wenn ich nach der Schule nicht in einem Betrieb arbeiten kann, eröffne ich ein Geschäft. Ein Massagesalon mit Wellnessbereich wäre eine gute Sache“, beschreibt der Praktikant seine Berufsvorstellung. Warum gerade den Kindergarten als Praktikumsplatz? „Ich war doch selbst mal Kind. Ich wollte einfach wissen, wie es ist, mit Kindern zu arbeiten.“
Und die Arbeit mit den Zwei- bis Sechsjährigen macht ihm großen Spaß. Er nimmt am Morgenkreis teil, hilft Kindern beim Aufstehen, wenn sie fallen, tobt mit ihnen im Turnraum und frühstückt mit ihnen. Fath gibt dem Schüler auch Aufgaben, die ihn herausfordern. „Vor dem Malen mit den Kindern war er sehr aufgeregt. Oder auch die Kartoffeln schälen mit den Kleinen in der Küche ist ihm durch seine Einschränkung schwer gefallen. Aber er stellt sich jeder Herausforderung. Die Kinder sind dabei eine tolle Motivation, indem sie seine Fähigkeiten so annehmen, wie sie eben sind“, erzählt der 33-Jährige. Die Kinder lassen Marcel nicht aus der Pflicht, unterstützen und loben. So entstehen gemeinsame Bilder an der Tafel, die kleinen Bälle aus dem Bällebad schaffen es dank Marcel wieder hinein, selbst an Gesellschaftsspiele mit filigranen Utensilien traut er sich heran. Während er in der ersten Woche nur vormittags in Begleitung von Betreuerin Julia Metz arbeitete, half er in der zweiten Praktikumswoche schon in der Nachmittagsbetreuung mit. Klassenlehrer und Integrationsbeauftragte der Mittelschule schauen immer mal wieder vorbei, tauschen sich mit den Erziehern und dem Achtklässler aus.
„Marcel ist wie mein zweiter Schatten geworden“, gibt der Erzieher der grünen Gruppe lächelnd zu. Die Gratwanderung zwischen der Betreuung eines Praktikanten mit Handicap und der Arbeit mit den Kindern sei schon sehr anstrengend. „Für die Inklusion müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Beispielsweise mehr Personal und barrierefreier Räume. Die Inklusion steckt noch in den Kinderschuhen“, bemerkt Fath. Die Zeit und Erfahrung mit Marcel Becker möchte die grüne Gruppe nicht missen. Sie haben sich auf den Praktikanten eingelassen, Rahmenbedingungen für ihn und die Gruppenkinder geschaffen und obendrein den Gruppenalltag gemeistert. Zum Abschied schenken ihm die Kinder eine Collage von Fotos seines zweiwöchigen Praktikums und ein Bild der Gruppe beim Spaziergang mit Marcel auf einen nahegelegenen Spielplatz. Weil sie ihn so gern haben und als Dank für das Vertrauen, das er ihnen so uneingeschränkt geschenkt hat.