Die Predigt im Wortlaut:
„Nine eleven“, 11. September 2001! Genau 21 Jahre sind es heute her. In New York, Arlington und Shanksville ereignete sich ein Terroranschlag in einer bis dahin nicht vorstellbar grausamen Weise. Vier Passierflugzeuge wurden gekapert und flogen in bedeutsame zivile und militärische Gebäude. Zwei durchbohrten das „World Trade Center“. Die beiden Türme stellten ein Symbol für die Wirtschaftsmacht der sogenannten freien Welt dar. Ein Flugzeug in Arlington stürzte auf das „Pentagon“, das unangreifbar scheinende amerikanische Verteidigungsministerium, also das Symbol für die militärische Stärke der USA. Und ein Flugzeug wurde nach Kämpfen mit Passagieren vom Piloten der Entführer bri Shanksville zum Absturz gebracht. Etwa 3000 Menschen starben bei dem terroristischen Massenmord.
„Nine eleven“ – seither hat sich die Welt verändert. Die Spirale der Gewalt nimmt stetig zu und wird immer perfider. Sie wirkt sich inzwischen aus bis in unseren unmittelbaren Lebensraum. Denken Sie nur an die seither unaufhörlichen Terrorattacken an prominenten Orten wie in Paris oder München, ebenso an weniger prominenten Orten wie z.B. im Zug von Ochsenfurt nach Würzburg.
Spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine sind nun auch die bislang in Europa überwunden geglaubten Kriege wieder Realität geworden. Die militärischen Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd erhalten neue Brisanz. Die Spannungen in der Welt lösen wir weder mit einer naiven Sorglosigkeit noch allein mit militärischer Macht. Der Terrorismus wird mit großen Geldsummen, teilweise von Staaten, unterstützt und gefördert.
Hinter dem Hass, der immer wieder angestachelt wird, verbergen sich nicht nur politisches Machtstreben und wirtschaftliche Interessen, sondern auch ein unmenschliches und daher würdeloses Menschenbild, sowie ein lebensgefährlicher Fanatismus. Dieser instrumentalisiert sogar Gott und die eigene Religion.
Zu den zahlreichen Wurzeln des Hasses gehört auch die Sorglosigkeit, mit der die sogenannte freie Welt ihre eigenen wirtschaftlichen Vorteile suchte und sie sich verschafft hat. Sie lebte und lebt dadurch auf Kosten vieler unterentwickelter Regionen dieser Erde. Spätestens seit „die Bilder laufen lernten“ und sich durch die modernen Medien rings um die Erde verbreiteten, wurde vielen Menschen in den unterentwickelten Ländern bewusst, wie gut wir in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern leben, und wie arm sie wirklich dran sind. Ihre Reaktion hat nicht nur mit Neid zu tun, von dem auch das heutige Evangelium berichtet.
Anstatt spätestens jetzt, da uns die Not und Ausweglosigkeit von Menschen aus den Krisenregionen der Erde erschreckend nahekommt, auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung hinzuwirken und mit einem Teil unseres Vermögens und mit unseren Möglichkeiten dazu beizutragen, den Menschen in aller Welt zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen, versuchen die führenden Wirtschaftsnationen zu mauern. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass die Politiker bei Wahlen abgestraft werden, die mit unseren Möglichkeiten zu helfen versuchen. Dabei geht es ja zunächst einfach nur darum, Schutz zu bieten und dann den Teil der Flüchtlinge, die hier ihre Zukunft sehen, zu integrieren.
In der Tat bräuchte es nicht nur in Deutschland eine Alternative, aber gewiss keine von der Art, wie sie sich seit einigen Jahren bei Wahlen in sogar zweistelligen Prozentzahlen zeigt! Es braucht Friedenswillen von allen Großmächten und den Verzicht darauf, nicht ständig eigene Machtansprüche und Interessen durchzusetzen. Es braucht die Bereitschaft, in den Ländern, aus denen die Menschen vor Terror, Krieg, Vertreibung und auch Armut fliehen, in Bildung, wirtschaftlichen Aufbau und soziale Standards zu investieren. Und schließlich braucht es auch wertschätzenden, respektvollen Umgang miteinander bei aller kulturellen Verschiedenheit.
Wie kann das aber auf der Weltbühne gelingen, wenn – und jetzt spreche ich nicht von anderen, ähnlich tickenden Ländern, sondern nur von unserer Bevölkerung – schon bei uns als Alternative ständig vorgeschlagen wird, Grenzen dicht zu machen und Mauern hochzuziehen, damit wir unter uns bleiben – und das in einem der wohlhabendsten Länder der Erde!
Wie viele in unseren Breiten haben von den Chancen der Globalisierung geredet und dabei nur an die eigenen Vorteile einer wirtschaftlichen Verflechtung gedacht, nicht aber an die Verantwortung füreinander.
Vor diesem Hintergrund lese ich das heutige Evangelium mit dem Gleichnis Jesu, das uns allen seit Kindesbeinen bekannt ist. Früher war es überschrieben: „Vom verlorenen Sohn“, dann „Vom barmherzigen Vater“ und jetzt „Von der grenzenlosen Liebe des Vaters“.
Die erste Überschrift, „Vom verlorenen Sohn“, weist hin auf den unrühmlichen Lebensstil des jüngeren Sohnes, auf seine Fehler, seine Schuld, seine zerknirschte Zuflucht. Die zweite Überschrift, „Vom barmherzigen Vater“, verweist auf den verzeihenden, nicht nachtragenden Vater und auf seine offenen Arme. Die dritte Überschrift, „Von der grenzenlosen Liebe des Vaters“, weist nicht nur hin auf die große Bereitschaft des Sohnes zum Neuanfang und auf das Bemühen des Vaters, auch dem jüngeren Sohn zum Leben zu verhelfen. Diese Überschrift nimmt auch den älteren Sohn in den Blick, der nun für sich Ansprüche erhebt und diese mit seinem eigenen – wie er glaubt vorbildlichen – Verhalten begründet, ebenso wie auch mit den Fehlern und dem Versagen seines jüngeren Bruders.
Der Vater vergibt beiden: dem älteren Sohn vergibt er den Neid und seine Vorwürfe gegen ihn, den Vater, und dem jüngeren Sohn sein ausschweifendes Leben. Er hat zwar Fehler gemacht, doch der Vater gönnt ihm eine lebenswerte Perspektive. Er bezieht ihn in die Gemeinschaft, in das Leben ein. Er lässt ihn spüren: Ich freue mich und es ist schön, dass du da bist, und er teilt mit ihm, was er hat. Er sieht in seiner Rückkehr sogar einen Grund zu feiern. Beide Söhne sollen sich des Lebens freuen können. Im Gleichnis heißt es: „Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu … Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden.“
Wir sind noch weit von dieser Haltung entfernt. Das wird daran deutlich, dass immer mehr Menschen ihren Blick auf die Fehler des anderen, auf die schwierigen Seiten des Miteinanders fokussieren. Sie vergessen, nach Wegen zu suchen, um die derzeitigen Herausforderungen zu meistern und das Miteinander in der Welt wie auch in unserer Gesellschaft menschlich und lebenswert zu gestalten.
Papst Franziskus sagte bei einer Predigt: „Der Friede kann nicht von heute auf morgen gemacht werden, denn dieses Geschenk muss angenommen und jeden Tag aufs Neues ,bearbeitet‘ werden. Deshalb können wir sagen, der Friede ist ganz wörtlich ein Hand-Werk des Menschen. Wir Menschen müssen Tag für Tag daran arbeiten, das ist unsere Aufgabe … Es reicht nicht, große Sprüche für den Frieden zu schmieden und große internationale Friedenstreffen zu organisieren, wenn es keine Friedensbemühungen im Kleinen gibt … wenn in deinem Herzen kein Friede herrscht, wenn der Friede in deiner Familie, in deinem Wohnquartier oder bei der Arbeit fehlt, dann kann es auch keinen Frieden in der Welt geben.“
Deshalb empfiehlt der Papst allen, Gott um „Frieden in den täglichen Dingen des Lebens“ zu bitten. Wichtig sei hierbei folgende Frage: „Wie ist dein Herz heute? Herrscht dort Frieden? Wenn es dort keinen Frieden gibt, dann kümmere dich zuerst um dein Herz. … Es reicht nicht, über den Frieden in der Welt zu sprechen. Also, fragt euch heute: wie sieht mein Herz heute aus?“
Den Hass, der an „nine eleven“, am 11. September 2001, deutlich wurde und die Folgen davon überwinden wir letztlich weder durch Gewalt noch durch massive Abgrenzung. Notwendig ist vielmehr ein bewusstes Engagement in der Haltung, die Jesus uns Christen ans Herz legt, d.h. für das Leben einzustehen. Dadurch verschwinden dann nach und nach auch die Fluchtursachen.
Auffallend ist im heutigen Evangelium, dass der Vater den jüngeren Sohn wegen seines Fehlverhaltens nicht verdammt, sondern ihm entgegenkommt und ihn einlädt zu einem besseren Leben. Auch den älteren Sohn versucht der Vater durch Langmut und Zuneigung und sicher auch in aller Liebe zu gewinnen. Er will, dass er teilnimmt an der Freude über die Rückkehr des Bruders, der ihm Kummer bereitet hat, ihm nun aber wieder geschenkt wurde.
Genau darin sehe ich unsere Aufgabe als Christen in der Welt von heute: bei aller berechtigten Sorge um die Entwicklung unserer Welt und unserer Gesellschaft sollen wir Zeugnis geben für die Haltung des barmherzigen Vaters, für seine grenzenlose Liebe, die allen zum Leben verhelfen will. Das ist fürwahr eine gute Alternative zur weit verbreiteten Denk- und Verhaltensweise, die jetzt z.B. den Ukrainekonflikt nur mit Waffen beenden will.
Das Zeugnis für die Haltung des Vaters wird am glaubwürdigsten dadurch, dass wir seinen Weg nachzugehen versuchen. Dabei müssen wir unmissverständlich und klar auf fehlgeleitete Haltungen bei uns und anderswo hinweisen, aber mit versöhnlichen und gewinnenden Worten.
Letztlich ist und bleibt es der Auftrag Jesu an uns, Menschen zum Leben zu verhelfen. Denn so handelt der barmherzige Vater, und so gestalten wir die Welt friedvoll! Das ist ein wichtiger Beitrag, damit sich das Drama „nine eleven“ nicht weiter fortsetzt.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Dem französischen Schriftsteller Antoine de Saint Exupery
verdanken wir dieses Gebet:
Herr,
leih’ mir
ein Stück
deines Hirtenmantels,
damit ich
die Last
meiner Brüder und Schwestern
darunter
ver – berge.
