Die Predigt im Wortlaut:
Marc Twain, der berühmte amerikanische Schriftsteller, dessen Feder u.a. die Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn entstammen, kritisierte in seinen Büchern sehr feinsinnig und oft auch recht scharfzüngig die Heuchelei und Verlogenheit der herrschenden Klasse seiner Zeit. Ihm wird folgende Episode zugeschrieben.
Als Mark Twain als Redakteur für die Sorgenspalte zuständig war, klagte eine Siebzehnjährige, sie verstehe sich mit ihrem Vater nicht; er sei rückständig und ohne Sinn für das Moderne.
Mark Twain antwortete: „Ich kann Sie gut verstehen. Als ich siebzehn Jahre alt war, zeigte mein Vater ebenfalls keinerlei Bildung. Haben Sie Geduld mit alten Leuten! Die entwickeln sich langsamer. Zehn Jahre später, mit siebenundzwanzig Jahren, konnte ich mich schon vernünftig mit ihm unterhalten. Heute bin ich siebenunddreißig, und – ob Sie es glauben oder nicht – ich kann ihn fragen, wenn ich keinen Rat mehr weiß. Es ist verblüffend, was der alte Herr dazugelernt hat.“
Nun hat jede und jeder von uns seine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem eigenen Vater, und außerdem kennen wir zur Genüge die Konflikte zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern, weil sie völlig unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen vom Leben haben.
Auf jeden Fall gilt, dass es das Recht der Jugend ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen.
Gerade deshalb scheint mir der Unschuldswahn in der Gesellschaft unserer Tage viel schwerwiegender als die mit der normalen Entwicklung verbundenen Konflikte zwischen den Generationen. Heutzutage gilt doch vielfach:
Keiner macht Fehler, und wenn Fehler gemacht werden, sind immer die anderen daran schuld. Und sollte sich kein anderer finden, dann gibt es zumindest irgendeine Erklärung, warum es so passieren musste. Die Umstände, die Strukturen, die gesellschaftlichen, sozialen, familiären Bedingungen werden oft als Gründe für Fehlverhalten genannt.
Insofern ist das Gleichnis, das Jesus im heutigen Evangelium erzählt, höchst brisant. Auch im Wissen um das manchmal spannungsvolle Verhältnis zum eigenen Vater greift er bewusst auf das Bild des fürsorglichen Vaters zurück, um die Barmherzigkeit Gottes zu beschreiben.
Das Gleichnis ist auch aufschlussreich im Blick auf den jüngeren Sohn.
- An ihm wird deutlich, dass es nicht die Strukturen waren, die ihn eingeengt und zum Fehlverhalten verleitet haben. Vielmehr lässt Gott uns Menschen absolute Freiheit. Wir haben sogar die Freiheit, uns gegen ihn zu entscheiden, aber wir müssen auch die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, auf uns nehmen.
- Das Gleichnis macht zugleich deutlich, dass der jüngere Sohn sehr lange gebraucht hat, um einzusehen, dass er sein Leben nicht alleine in den Griff bekommt. In der Überzeugung, selbst in der Lage zu sein, für sein Lebensglück zu sorgen, setzt er sich ab. Als dann aber sein Weg gescheitert ist, ist er zunächst zu stolz, um zu seinem Vater zu gehen und um Hilfe zu bitten. Sein Fehler ist der falsche Stolz, der es ihm nicht erlaubt umzukehren und sich helfen zu lassen.
- Entscheidend ist schließlich die Erkenntnis, dass es ihm bei seinem Vater wesentlich besser ging und gehen wird als auf dem eigenwillig eingeschlagenen Weg.
Das Gleichnis Jesu ist aber auch interessant im Blick auf den älteren Sohn:
- Während der jüngere sich mehr und mehr vom Vater entfernt, dann aber – Dank besserer Einsicht – zu ihm zurückkehrt, setzt sich der ältere Sohn durch seinen Neid und seine Missgunst vom Vater ab.
Jesus macht deutlich: Gott will uns zum Leben und zum Glück verhelfen. Dabei denkt, entscheidet und handelt er völlig anders als wir Menschen. Nicht mit unseren Wie-du-mir-so-ich-dir-Vorstellungen, sondern mit Liebe und Barmherzigkeit wird er den Menschen letztlich gerecht.
Dieses Gleichnis, das uns unter der Überschrift „Der verlorene Sohn“ seit Kindertagen bekannt ist, wurde in unserem Theologiestudium „Der barmherzige Vater“ genannt. Nach meiner bisherigen Lebenserfahrung meine ich, es sollte als „Das Gleichnisvon der grenzenlosen Liebe des Vaters“ überschrieben werden.
Durch das Verhalten des Vaters will Jesus seinen Zuhörern deutlich machen: Ich kann im Leben gar nicht mehr haben, als bei Gott geborgen zu sein und aus der Nähe zu IHM heraus zu leben und zu handeln. Und es geht mir absolut nichts verloren, wenn ich einem anderen gönne, dass auch er das Erbarmen und die Güte Gottes spüren darf.
Jesus will mit seinem Gleichnis aber nicht nur auf Einzelfälle anspielen. Er will uns grundsätzlich aufmerksam machen, wo wir Gefahr laufen, uns von Gott zu entfernen, nämlich
- wenn wir uns verhalten wie der jüngere Sohn, der denkt, ohne Gott und nach eigenen Vorstellungen, nach eigenem Lebensmuster glücklicher zu werden.
- oder wenn wir uns verhalten wie der ältere Sohn, der sich durch seinen Neid, seine Missgunst, durch seine zu kurz gegriffenen und vielleicht sogar verbissenen Vorstellungen von Gerechtigkeit um sein Glück und seine Lebensfreude bringt.
Jeder von uns kann sich eigensinnig verrennen und vertraute Wege aufgeben. Jeder von uns kann sich aber auch um sein Glück bringen, nur weil er es anderen neidet und ihnen missgönnt, dass es ihnen ebenso gut geht. Jesus will uns ermuntern, dass wir wie der Vater zum Verzeihen und zu Barmherzigkeit bereit sind.
Deshalb will ich nochmals an die Aussage von Marc Twain erinnern, der in seinem ironischen Ratschlag deutlich macht, dass sich letztlich nicht der Vater, sondern er und seine veränderte Einschätzung des Lebens gewandelt haben. Viele wegweisende Einsichten verdankt er der Erfahrung und der Weitsicht seines klugen Vaters.
Die Parallele zum Gleichnis Jesu ist offensichtlich. Es lehrt uns, ein Leben ohne Gott führt letztlich in eine Sackgasse. Es ist für uns also entscheidend, dass wir uns immer wieder mit dem Vater, mit Gott, auseinandersetzen, um durch ihn den richtigen Weg zum Leben zu finden. Jesus will uns mit diesem Gleichnis Mut machen, immer zu IHM zu kommen, auch dann, wenn wir Fehler gemacht haben. Es geht um das Vertrauen in die Liebe Gottes.
Gott ändert sich nicht. Aber vielleicht müssen wir immer wieder in uns gehen und uns fragen, ob wir auf dem richtigen Weg sind und ob wir das Vertrauen und den Mut haben zu Gott zurückzukehren. Dann dürfen wir erleben, wie er uns in die Arme schließt und uns neue Freude am Leben schenkt.
Text zur Besinnung
Gottes Liebe ist
immer größer,
als wir von ihr denken.
Nicht zu fassen, wie weit sie geht.
Nicht zu verstehen, wie tief sie ist.
Gottes Liebe ist
kaum zu beschreiben,
erst recht nicht mit Worten.
Jessica Bohn