Die Predigt im Wortlaut:
„Der hat das Brot nicht über Nacht!“ – Das Brot nicht über Nacht haben, das heißt, dass jemand zu wenig zum Leben hat und nicht weiß, wovon er am nächsten Tag leben soll.
„Der hat das Brot nicht über Nacht!“ – Das ist ein deutlicher Ausdruck der Armut.
Rein materiell gesehen leben wir – zumindest in unseren Breiten – im Überfluss, haben mehr als genug zum Essen, zum Leben, im Gegenteil, teilweise werden sogar überschüssige Lebensmittel vernichtet, um den Marktpreis zu halten.
Auch wenn die Schere zwischen Menschen, die im Überfluss leben und solchen, die mit sehr wenig auskommen müssen, immer weiter auseinandergeht, wage ich zu behaupten, dass viele, viele Menschen – auch wohlhabende – in unserer Gesellschaft „das Brot nicht über Nacht“ haben. Sie sind im Grunde arm dran, weil sie tatsächlich – im übertragenen Sinne – nur aus der Hand in den Mund leben. Sie verbrauchen, konsumieren zwar alles Mögliche, aber eben nur Dinge für den Augenblick, die allenfalls den Magen, nicht das Herz füllen.
Wenn aber Herausforderungen, Belastungen, persönliche Nöte kommen, weil das Leben nicht nur sonnige Tage bereithält, wenn dunkle Stunden, Nächte von Unsicherheiten, Enttäuschungen und Sorgen hereinbrechen, haben sie nichts, was ihnen Halt und Kraft gibt.
So gesehen gibt es in unserer Gesellschaft immer weniger Brot, das den tiefen Lebenshunger der Menschen stillen und nähren könnte. Denn alles, was uns gegen die geistige Armut, gegen diese Not geboten wird – ob in den Medien, über bestimmte Kanäle in den sogenannten „Social Media“ oder „Tiktok“, aber auch in der Politik mit ständig neuen Perspektiven und Reformen oder schlimmer noch im Bereich der Unterhaltung mit immer niveauloseren Gags – davon können wir im letzten nicht leben, nicht überleben, das reicht fürwahr nicht über Nacht.
Im Gegenteil, die Art und Weise wie Leben bei uns gesehen, vorgeführt und gelebt wird, erweist sich als äußerst gefährlich: Kinder werden als Einschränkung und Belastung empfunden, Behinderte sind eine – sogar gerichtlich festgestellte – Zumutung, die den Freizeitwert am Urlaubsort beeinträchtigen, Arbeitnehmer, die nicht den Vorstellungen ihrer oft jugendlichen Chefs entsprechen, werden „freigesetzt“, und nicht wenige alte Menschen fühlen sich als überflüssige Last.
Wir sprechen von der „sozialen Realität“. Damit beschreiben wir nicht nur aktuelle Gegebenheiten, sondern finden uns einfach damit ab, dass unsere Gesellschaft immer mehr vergreist, dass sie innerlich immer hohler wird, dass Familien mit Kindern, die doch unsere Zukunft bedeuten, vielfach stark benachteiligt sind. Für mich ist es bedenkliche „soziale Realität“, dass die Gewaltbereitschaft immer mehr zunimmt, dass Leben vielfach unter ökonomischen, wirtschaftlichen Gesichtspunkten bewertet wird.
Auch die „Rund-um-die Uhr-Gesellschaft“, die Tag und Nacht in Betrieb ist, ist eine „soziale Realität“. Aber dass sich an diesem Punkt, aktuell an der Diskussion um die Feiertage, mehr und mehr Widerstand formiert – neben den Kirchen auch Gewerkschaften und einzelne Parteien – ist für mich ein ermutigendes Zeichen, um die sonn- und feiertägliche Arbeitsruhe und damit den Menschen die Freiheit für religiöse und soziale Bedürfnisse zu sichern und weder der Wirtschaft noch der Freizeitindustrie damit neue Spielräume zu verschaffen.
Der arbeitsfreie Sonn- und Feiertag ist für den Einzelnen und die Gemeinschaft, insbesondere für Familien, ein Tag der Besinnung und des Miteinanders. Für uns Christen ist der Sonntag darüber hinaus ein Tag des Kraftschöpfens. Er ist für uns die unverzichtbare „Brotzeit“ fürs Leben, für die Woche, für den Alltag, auch für die Nächte des Lebens.
Es geht im Leben also um mehr als nur um Konsum, um ein Leben von der Hand in den Mund, in dem man sich mit Verbrauchsgütern zu sättigen versucht, und früher oder später spürt, dass all dies nicht ausreicht, um den eigentlichen, tieferen Lebenshunger zu stillen. Denn dazu braucht es tatsächlich nicht in erster Linie eine ständig steigende Konsumspirale, da das, was uns dabei geboten wird, fürwahr nicht über Nacht reicht und nicht durch das Leben mit all seinem Auf und Ab trägt.
Manche erinnern sich noch, dass früher um Mitternacht das Fernsehprogramm abgeschaltet wurde. Der Sprecher hat eine gute und erholsame Nacht gewünscht und dann gesagt: „Wir schalten jetzt ab!“ Danach kam ein Testbild.
Das, was uns bei der Eucharistiefeier immer wieder in die Hand gelegt wird, und heute – noch – in vielen Gemeinden in der Monstranz durch die Straßen unserer Dörfer und Städte getragen wird, das ist auch so etwas wie ein Testbild. Es fragt, ob wir noch für den richtigen Sender auf Empfang sind, ob wir noch einen Draht haben für Jesus, der uns zum Leben führt und im Leben bestärkt, ob wir noch das Brot des Lebens, das Gott gibt, im Blick haben.
Wem dieser Gedanke aber verlorengegangen ist, der braucht anderes, der braucht dann die Rund-um-die-Uhr-Berieselung und Ablenkung, der wird auch noch in der Nacht irgendwo die Lebensmittel einkaufen wollen, die seinen augenblicklichen Lebenshunger stillen sollen.
Doch Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot“. Und das hat er erfahren, weil die Menschen immer wieder in Scharen zu ihm gekommen sind, um ihn zu hören, um sich bei ihm Ermutigung und Kraft zu holen, um die entscheidende Perspektive für ihr Leben zu gewinnen.
Im Evangelium wurde uns berichtet, wie die Menschen zu ihm kommen. Und Jesus stillt nicht nur den Hunger ihres Herzens. Wer das Herz berührt und den Lebenshunger der Menschen stillt, der verhilft den Menschen auch dazu, den Hunger ihres Leibes zu stillen – und sei es mit noch so wenig.
Dafür setzt Jesus ein Zeichen. Bei diesem Bemühen braucht er aber die Jünger, braucht er uns. Was er uns in die Hand legt, das sollen wir teilen und weitergeben.
Deswegen ist es eine starke Geste, wenn wir unsere leeren Hände zu Schalen formen und sie hinhalten, damit uns das Brot des Lebens, damit uns Jesus hineingelegt wird. Und die richtige Übersetzung für das, was er mit uns macht, geschieht überall dort, wo wir einander die Hände hinhalten, um miteinander – in der Nähe wie auch über Kontinente hinweg – das Leben zu teilen, um uns gegenseitig zu stützen, aufzuhelfen, um uns zu ermutigen, zu trösten, um uns zum Leben zu verhelfen.
Es ist interessant, dass der Evangelist Lukas am Anfang seines Berichtes ganz kurz anmerkt:
„Als der Tag zur Neige ging“, also als es Abend wurde, als die Nacht hereinbrach, da wollten die Jünger zunächst die Leute wegschicken, denn auch ihr Denken war vordergründig nur auf den körperlichen Hunger ausgerichtet, und deshalb hatten auch sie das Brot nicht über Nacht. Aber das reichte den Menschen nicht, sie brauchten mehr! Als Jesus ihnen das Herz gefüllt hatte, da plötzlich reichte auch das wenige, das sie bei sich hatten. Und das teilten sie jetzt miteinander. Da war ihr Lebenshunger in jeder Hinsicht gestillt. Die Nacht konnte kommen, sie brauchten keine Sorgen mehr zu haben, sie hatten einen unvorstellbar großen Vorrat.
Wenn wir heute Fronleichnam feiern, dann wenden wir uns dem zu, der uns alles gibt, damit wir keine Angst haben vor dem Leben, auch nicht vor der Nacht des Lebens. Dann müssen wir im Blick auf das Leben auch nicht in eine geradezu blinde Hektik verfallen, um uns mit irgendetwas Vordergründigem, Oberflächlichem abspeisen zu lassen. Dieses Brot, das wir heute in Blick nehmen und aller Welt zeigen, ist Leben und schenkt Leben.
Wie arm sind die Menschen, die noch nicht auf den Geschmack an diesem Brot, die noch nicht auf den Geschmack an der Lebensbotschaft Jesu gekommen sind! Sie haben wirklich nicht das Brot über Nacht!
Wir genießen es nicht nur, wir verehren es heute, weil es Leben verheißt durch den, der sich uns darin schenkt, und zwar für jeden Tag und jede Nacht des Lebens.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Brot auf dem Weg,
auf Straßen und Plätzen,
unterwegs zu dir und zu mir.
Brot, das Leben spendet,
das den Hunger stillt
nach Sinn und nach Wahrheit.
Brot, das uns eint,
wenn wir einander Brot werden,
indem wir Leben und Liebe teilen.
Brot, das uns nährt,
uns Trost und Ermutigung ist,
Wegzehrung für unser Leben.
Brot für die Welt.
Als Brot tragen wir IHN in die Welt.
(Lothar Zenetti)