„Das Reh springt hoch, das Reh springt weit….“, wirft Lars Ruppel mit einem schelmischen Lächeln in die bunt gemischte Runde aus Senioren und Jugendlichen. Während die Schülerinnen noch Fragezeichen in den Augen haben, antworten einige Besucher der Tagespflege St. Thekla bereits ohne zu zögern: „...Warum auch nicht – es hat ja Zeit!“ Mit einem einfachen Zweizeiler aus der Feder Heinz Erhardts hat der junge Mann im Schlabberlock im Handumdrehen die Ohren und Herzen seiner Zuhörer geöffnet. Spielerisch spinnt Ruppel den Faden sofort weiter, gelangt über das Reh mit Preiselbeerbirne zum Birnbaum des Herrn von Ribbeck, der heute mal nicht im Havel- sondern im Frankenland steht. Ein Stichwort genügt, und schon spricht die Senioren-Runde Zeile um Zeile mit oder hilft dem vermeintlich stockenden Wortkünstler weiter. Ein bis dato verschlossen vor sich hin starrender alter Herr blickt plötzlich neugierig auf den verse-versprühenden jungen Mann, einer alten Dame huscht ein Lächeln übers Gesicht, eine andere nickt versonnen vor sich hin und meint: „Ja, das hatten wir früher auch schon!“ Als Ruppel dann mit Kurt Tucholskys „Mutters Hände“ durch die Runde geht, und jedem einzelnen ein „Danke“ für’s Stullenschneiden und Kartoffelschälen entgegenbringt, schimmert in so manchem Auge eine Träne: „Ach, ich hab’s doch gerne gemacht…“
Reaktionen wie diese kennt Lars Ruppel nur zu gut. Seit fünf Jahren reist der gebürtige Hesse (Jahrgang 1985) und passionierte Poetry-Slammer durch ganz Deutschland und holt mittels der Poesie bei alten Menschen längst verschüttet geglaubte Verse und tiefe Erinnerungen ans Tageslicht. Ausgehend von seiner Begeisterung für Poetry Slams – einer Art Dichterwettkampf, dessen Teilnehmer sich expressive Wortschlachten mit selbst geschriebenen Texten liefern – und inspiriert von den Alzpoetry-Workshops des Amerikaners Gary Glazner entwickelte Ruppel 2009 sein speziell auf die Bedürfnisse alter Menschen zugeschnittenes Konzept „Weckworte“. Anliegen ist es, durch den expressiven Vortrag von Gedichten Erinnerungen bei alten Menschen zu wecken, die ganz unterschiedliche seelische, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen haben.
Dabei will Lars Ruppel jedoch kein Alleinunterhalter sein. Ganz bewusst holt er Schüler, Pflegende und Angehörige mit ins Boot, die in seinen Weckworte-Workshops praktische Impulse für eine „kulturelle Aufwertung der Pflege“ erhalten und die Poesie als Brückenbauer zwischen Jung und Alt erleben. Dieser Gedanke und der Wunsch, „Lachen und Freude in den oft grauen Alltag alter Menschen zu bringen“, war denn auch für Eva-Maria Pscheidl und Georg Sperrle vom Caritas-Verband Würzburg ausschlaggebend, den Wortakrobaten sowie 21 Neuntklässlerinnen der Würzburger St. Ursula-Schule und der Maria-Ward-Schule ins St.Thekla-Heim einzuladen.
Zu Beginn des vierstündigen Workshops, gesponsert unter anderem von Dr. Michael Hannig, Inhaber der Luitpold-Apotheke und der Ringpark-Apotheke in Würzburg, führte Lars Ruppel die Schülerinnen zunächst mit viel Esprit und Wortgewandtheit an das Thema Poesie heran. „Während früher das Auswendiglernen von Versen einfach dazugehörte, dürfen Jugendliche heute nur noch wenige Gedichte kennen lernen und verlieren zunehmend die Lust an der Poesie“, bedauert er. Eigentlich schade, denn schließlich seien Gedichte „pralle, lebendige Sprache, erlebtes Leben“. Zugleich zeige die Erfahrung, dass gerade Lyrik – und zwar ganz egal ob dies nun Schillers „Glocke“ oder Heinz Erhardts „Made“ ist – zum Türöffner in der Kommunikation zwischen Alt und Jung werden und Erinnerungen lebendig machen kann. Zwar könne man „keine Krankheit durch den Vortrag von Gedichten heilen“, doch gerade Menschen mit dementiellen Veränderungen bringe man so Würde und Wertschätzung entgegen.
Damit die Begegnung in Versform auch gelingt, gab der erfahrene Poetry-Slammer den Schülerinnen zunächst eine ganze Reihe praktischer Tipps und Tricks an die Hand. Unter seiner Anleitung loteten sie spielerisch ihre darstellerischen Möglichkeiten aus, bauten Berührungs- und Vortragsängste ab und erprobten Nuancen in Sprachmelodie, Rhythmus, Gestik und Mimik. „Wenn Ihr Euer Gedicht zum Leben erweckt und direkt zum Menschen bringt, bekommt Ihr unglaublich viel Liebe und Emotion zurück“, versprach Ruppel den Jugendlichen, bevor es an die Praxis ging.
Und tatsächlich: Nach einer eher zaghaften Begrüßung kam mit jedem Vers ein Stück mehr Sicherheit, Freude und Offenheit in den Raum: Regina entführte die Senioren im Spazierschritt in Heinz Erhardts „Urlaub im Urwald“, Doreen machte sie mit den Maurern von Kurt Schwitters bekannt und gemeinsam mit Melina setzten sie zu den Versen von Richard Dehmels „Erntelied“ eine imaginäre Getreidemühle in Bewegung. Mit Erich Frieds „Was es ist“ schlich sich ein Hauch von Wehmut in den Raum, und als dann Anja jedem einzelnen Besucher einen Vers aus Hanns Dieter Hüschs Psalm 126 in die Hände legte, war das Glück eines erfüllten Augenblicks bei Alt und Jung beinahe mit Händen zu greifen. Nach der wie im Flug vergangenen Stunde wollten die Senioren ihre jungen Gäste kaum gehen lassen: „Wann kommt Ihr wieder?“, hieß es bei der Verabschiedung immer wieder, und so mancher hielt die junge Hand noch ein bisschen länger fest.
Auch die Schülerinnen waren von der Begegnung mit den alten Menschen tief berührt: „Da waren so viele strahlende Augen, ich habe richtig gespürt, dass diese Stunde für sie ein Geschenk war“, staunten die Schülerinnen. So stand denn am Ende bei so mancher von ihnen die Erkenntnis, dass Pflege und der Umgang mit alten Menschen nicht nur anstrengend, sondern auch wunderschön sein können. Eva-Maria Pscheidl und Georg Sperrle vom Caritas-Verband ließen diese Erkenntnis denn auch in eine simple, aber nahe liegende Frage münden: „Wäre der der Pflegeberuf nicht ’ne coole Lebensaufgabe für mich?“
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