Die Predigt im Wortlaut:
„Mach dich locker!“, so reagierte ein Bekannter, den ich am vergangenen Mittwoch auf dem Parkplatz beim Impfzentrum in Würzburg traf und ihm erzählte, dass ich gerade die zweite Impfung erhalten habe. „Jetzt mach dich locker!“ Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Jetzt brauchst du auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen!“
In der Tat scheint das für viele Menschen ein wichtiger Aspekt zu sein, der zudem mit dem Grundrecht auf Freiheit begründet wird, tun und lassen zu können, was der Einzelne will. Deshalb werden die Forderungen nach Lockerungen immer lauter. Die einen erachten die Einschränkungen bzw. weite Teile davon ohnehin als unnötig oder übertrieben, für andere sind sie mit ihrem liberalen Gesellschaftsbild grundsätzlich nicht vereinbar. Immer mehr stimmen ein in den Chor aus Medien und Politik, die auf die Forderungen z.B. aus Wirtschaft, Kultur, Tourismus, Schule, Bildung verweisen, sowie derer, die die schlimmen Konsequenzen aus dem Verlust aus sozialen Kontakten zu bedenken geben.
„Lockerungen“ ist das Wort der Stunde. Dennoch ist die Predigt jetzt nicht der Moment, um die verschiedenen Maßnahmen im Blick auf ihre Erfordernisse und den damit verbundenen Schutz der Menschen vor Infektion differenziert zu betrachten.
„Lockerungen“ können keinesfalls so verstanden werden, wie sie von sogenannten „Querdenkern“ oder „Corona-Leugnern“ eigenmächtig gehandhabt werden, nämlich ohne Einhalten von Abstands- und Hygieneregeln.
„Lockerungen“ dürfen also gewiss nicht dazu führen, dass jeder tut und lässt, was er will.
Beim Thema „Lockerungen“ geht es nicht nur um die Corona-Pandemie, dabei geht es auch um die grundsätzliche Einstellung zum Leben und zum Umgang damit in allen Bereichen.
In der vergangenen Woche wurde gemeldet, dass die Zahl der rechtsextremen Straftaten so hoch ist wie seit 20 Jahren nicht mehr. Der Bundesinnenminister spricht von „klaren Verrohungstendenzen in unserem Land“. Auch die Zahl der Gewaltdelikte nimmt stetig zu. Bis hinein in Familien werden Konflikte mit der Faust oder gar Waffen ausgetragen. Im Schutz der Anonymität nimmt die Zahl beleidigender Äußerungen und Kommentierungen anderer zu. Der Bundespräsident hat jüngst seine Sorge wegen des respektlosen Umgangs schon mit Kommunalpolitikern zum Ausdruck gebracht. Die Verbreitung von gewalt- oder gar menschenverachtenden Videos über die sogenannten sozialen Medien wird schon für Jugendliche und auch Kinder zur Gewohnheit.
Das alles kann nicht mit „Lockerungen“ gemeint sein.
Insofern ist das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgericht sehr bemerkenswert. In der aktuellen Ausgabe der ZEIT steht unter der Überschrift „Meine Freiheit oder deine?“ zu lesen: wie „… das bösartige Virus einen neuen Blick auf die Freiheit erzwungen hat.“
Wörtlich heißt es: „In Krisen wie dieser, und möglichen künftigen, geht es womöglich nicht mehr allein um die individuelle Freiheit, um ihre Verteidigung und Durchsetzung. Offenbar kommt eine neue, politische Dimension hinzu: Freiheit, so scheint es, kann mitunter eine knappe Ressource sein, die halbwegs gerecht zwischen Menschen verteilt werden muss, wie frisches Wasser oder saubere Luft. … Die Pandemie aber hat letztlich eine andere Logik geschaffen, eine virologische Logik der Freiheit, wenn man so will. Sie ist selektiv und exklusiv. Sie funktioniert nach dem Prinzip des Entweder-oder: Entweder wir öffnen die Kirche – oder den Baumarkt. Die eine Öffnung oder die andere ist eventuell gerade noch vertretbar, will man dem Virus nicht zu viel Angriffsfläche bieten. Aber eben nur eine von beiden. Macht man beides auf, schießen die Inzidenzen in die Höhe. Es gibt in der Krise nur ein begrenztes Kontingent an Freiheit.“
Im Blick auf die Klima-Problematik heißt es: „Natürlich ist es kein ganz neues Postulat, dass die Freiheit des einen Menschen ihre Grenze findet an der Freiheit des anderen. Niemand soll seine Freiheit rücksichtslos maximieren. ... Bislang aber dachte man bei solcher Rücksichtnahme eher an den Nachbarn, an die Mitbürger, an Zeitgenossen also. Seit dem Klima-Urteil jedoch muss man, wenn man an die Freiheit denkt, auch an die nächste Generation denken, an Kinder und Enkel, an die, die nach uns kommen. Die Zukunft steht jetzt unter Rechtsschutz. Oder, anders gesagt: Die Verfassung spricht nicht mehr nur im Präsens, sondern auch im Futur.“ Die Verantwortung, die wir heute wahrnehmen, ist die Grundlage für das Miteinander von morgen.
Im Zusammenhang mit all diesen Gedanken ist es bemerkenswert, dass heute vor 100 Jahren Sophie Scholl geboren wurde. Sie hat in der Sorge um die Zukunft unseres Volkes Mut aufgebracht und gewagt, gegen das Agieren des NS-Regimes zu protestieren und die Studenten damals an der Uni München zu warnen. Sie hat diesen Einsatz zwar – ebenso wie ihr Bruder Hans – mit dem Leben bezahlt, damit aber deutlich gemacht, dass es Grundsätze gibt, an denen wir um alles in der Welt festhalten sollten, um damit dem Leben zu dienen. Die Denunziation, die zur Verhaftung der Geschwister Scholl und ihrer Verurteilung führte, hat sich als eine von vielen Wegmarken in den Untergang des Dritten Reiches erwiesen.
Es geht also um mehr als um einen – wie wir jetzt erleben – hektischen Aktionismus und Überbietungswettbewerb der Parteien, was in Sachen Lockerungen bei den Pandemie-Einschränkungen oder beim Klima-Schutz zu tun sei. Es geht um die grundsätzliche Sicht von Leben.
Deswegen erfüllt es mich mit Sorge, dass aktuell im Europaparlament im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens das Recht auf Abtreibung diskutiert wird, oder dass – wie in der vergangenen Woche gemeldet – der Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit das berufsrechtliche Verbot ärztlicher Suizidhilfe aufgehoben hat, während gleichzeitig berichtet wird, dass die Freunde und Angehörigen der über 80 000 Menschen, die in Deutschland an oder mit Corona gestorben sind, einen Weg suchen, um den Verlust zu verarbeiten. Ebenso las ich in der vergangenen Woche einen Bericht, wie stark sich derzeit die Bestattungskultur verändert und damit auch ein wichtiger Aspekt mitmenschlicher Solidarität gerade in der Trauer.
Das alles kann nicht einfach unter dem Aspekt von „Lockerungen“ gesehen werden, oder wie mir dieser Tage jemand entgegenhielt: „Ach, die Kirche! Das sieht man heute alles lockerer!“
Wir erinnern uns heute hier in Steinheim an den 3. Mai 1309. Der Überlieferung nach wurde „die Leiche eines Fremdlings“ am Main angeschwemmt. „Um weitere Mühe und Unkosten eines Begräbnisses zu ersparen, vielleicht auch aus anderen Absichten, stießen die Einwohner den Leib des unbekannten Ertrunkenen vom Lande“, heißt es in der Chronik. Die Leiche wurde wiederum angeschwemmt und auch andere Versuche scheiterten, sich dieser zu entledigen. Als man sich doch entschloss, den Toten beizusetzen, tauchte beim Ausheben des Grabes das noch ältere Kreuz auf, das wir hier in Steinheim vor Augen haben. Seither schöpften und schöpfen unzählige Menschen hier Kraft und Orientierung für ihr Leben.
Somit möchte ich noch auf eine weitere Bedeutung des heutigen Tages verweisen, den Muttertag. Dieser Tag bot für viele von uns immer die Gelegenheit, der eigenen Mutter zu danken für das, was sie gemeinsam mit dem Vater tat, damit wir als Kinder einen guten Weg ins Leben gehen konnten. Die Entwicklungspsychologie sagt uns, dass ein Kind besonders in den ersten Lebensjahren ganz intensiv die Nähe und Zuneigung seiner Eltern braucht, ganz besonders seiner Mutter, um festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und um emotionale Stabilität zu finden.
Die Zukunft unserer Gesellschaft hängt also nicht von optimal funktionierenden Menschen ab, die dazu angeleitet werden, nur den eigenen Vorteil zu suchen oder ihren Willen durchzusetzen, die also von Kindesbeinen an für den Markt fit gemacht und ausgebildet werden. Eine lebenswerte und menschenwürdige Gesellschaft hängt davon ab, dass sie von Persönlichkeiten getragen und geprägt wird, deren Herzensbildung und Prägung sich entfalten konnte in der Umgebung von Menschen, die ihnen von Natur aus am nächsten sind.
Allerdings beschleicht mich immer stärker das Gefühl, dass sich die rein materialistische Sicht der Welt und des Lebens in der Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen spiegelt. Deshalb sollten über den Interessen der Ökonomie als erste Ziele Herzensprägung und emotionale Bildung und Bindung stehen. Die Garanten für die Herzens- und Persönlichkeitsprägung sind zweifelsfrei in erster Linie die eigenen Eltern.
Das Gespür, dass jemand da ist, der „Ja“ zu mir sagt, auch mit meinen Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten, das kann sich nicht entfalten, wenn ich nur das Produkt menschlicher Planung bin und funktionieren muss. Es ist wichtig, dass ich spüren darf, nicht Last und lästig, sondern geliebt zu sein – wie ich bin.
Für das Gelingen, für das Glück und die Erfüllung des Lebens wird offenbar nicht mehr mit Gott und seiner Hilfe gerechnet. Deshalb ist die biblische Botschaft dieses Tages so wichtig: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“, sagt Jesus, und er fügt hinzu: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ Ein Mensch, der nicht nur sich im Blick hat, sondern sich anderen öffnet und zuwendet, der darf dann erleben, was Jesus verheißt: „Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird.“ Von dieser Erfahrung beseelt schreibt der Verfasser des ersten Johannesbriefes: „Wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott.“
Es kann in unseren Tagen, in denen immer mehr Menschen die Frage nach der Zukunft stellen, nicht nur darum gehen, ganz locker – ohne jegliche Rücksicht – den Augenblick auszukosten oder andererseits hektisch einzelne – wenn auch wichtige – Aspekte des Lebens wie der Schöpfung gesetzlich zu regeln, es geht vielmehr um die Grundhaltung und Einstellung zum Leben, die Menschen– bildlich gesprochen – schon mit der Muttermilch verinnerlichen.
In diesem Zusammenhang scheint mir ein Kommentar interessant, der sich mit der hohen Zahl an Kirchenaustritten befasst und auf die Frage eingeht: „Gehört denn unter diesen Umständen das Christentum noch immer zu Deutschland?“
Er stellt fest: „Das Christentum gehört nur dann zu Deutschland, wenn wir um es wissen, es verstehen, uns mit ihm identifizieren. Wenn dies nicht gelingt, wird es seine prägende Kraft verlieren. An seine Stelle werden andere Botschaften treten, solche, die bereit sind, Menschen zu opfern, wenn sie nicht konform gehen; solche, die die Nation oder das Vaterland als Götzendienst aufbauen; solche, die sich im geistlosen Verneinen erschöpfen; solche, die sich in operativer Geschäftigkeit verbrauchen.“ Deshalb mahnt der Kommentator: „Jetzt müssen wir uns selber auf Werte besinnen, selber auswählen und entscheiden, selber unser Handeln an Werten orientieren. Aber welches sind diese Werte? Worin besteht das christliche Wertesystem?“
Es geht in unserem Tagen keineswegs um „Lockerungen“, um tun und lassen zu können, was der Einzelne will, sondern um die innere Freiheit, und von daher die Haltung der Liebe, die Jesus vorgelebt und uns aufgetragen hat. Insofern will dieser Gedenktag heute uns ermutigen und bestärken, uns ganz einfach und damit auch ganz locker als Christen zu erweisen. „Sind Sie Christ?“ „Ja, ich bin so frei!“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Zur Besinnung nach der Kommunion
Du erkennst deine Kirche
an denen, die dich loben
füreinander einstehen
sich selbst vergessen
an dir festhalten
sich hingeben
über die Welt hinaus hoffen
Widerstand leisten
sich nicht verführen lassen
Salz sind für die Erde
um die Einheit kämpfen
sich behüten und bewahren lassen
um selbst zu hüten und zu bewahren.
Du erkennst deine Kirche an
den Liebenden.
Autor unbekannt
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