Die Predigt im Wortlaut:
Als „Empörungsgesellschaft“ beschrieb kürzlich ein Kommentator einen Teil unseres Volkes. Es fehle das Vertrauen in das Gemeinwesen. Eigene Interessen überlagen alle Problemlagen und schließlich greift Angst um sich. Immer weniger sind bereit sich zu engagieren und Verantwortung für das Gesamte zu übernehmen – etwa in der Politik, und zwar auf allen Ebenen. Andererseits sind zunehmend mehr Menschen bereit, in Einzelfragen, die sie berühren oder ihnen – vielleicht sogar nur momentan – wichtig sind, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren bzw. zu protestieren. Forderungen werden zumeist lautstark erhoben. Ansagen eigener Bereitschaft zu Verzicht gibt es selten. Im Gegenteil: manche nehmen sich sogar heraus, für ihr Anliegen Gesetze zu brechen.
Das ist aber keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Wir brauchen nur in die Nachbarländer zu schauen. In einigen Ländern gibt es sogar staatlich organisierte Büros, die falsche Behauptungen und Meldungen verbreiten, um Menschen oder Gruppen zu diskreditieren.
Sogenannte „soziale“ Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, unsachliche Anschuldigungen und Diffamierungen in kürzester Zeit zu verbreiten und die Gesellschaft zu vielen Themen in Empörung zu versetzen. Mehr und mehr entwickeln sich diese Medien zum modernen Pranger des 21. Jahrhunderts. Diese gibt es in und für alle gesellschaftliche Schichten.
Die vielfach unsachlichen, nicht selten emotionalen, teilweise beleidigenden und diffamierenden Kommentare zu einzelnen Berichten auf der Homepage von Zeitungen sind dafür ein beredtes Beispiel. Es gibt sogar eigens eingerichtete Medienportale, um Mitmenschen – vom Lehrer bis hin zu Politikern – zu diskreditieren, oder mit Vermutungen Stimmung gegen sie anzuheizen. Online-Petitionen finden immense Zustimmungen.
Dieses sehr bedenkliche Verhalten gab und gibt es in allen Zeiten – ob zur Zeit Jesu, wie das heutige Evangelium berichtet, oder denken Sie an die Hexenjagd bis hinein in unsere Tage. Immer wieder wurden und werden Menschen sogar unschuldig verurteilt – oft ohne rechtsstaatliches Verfahren. Denken Sie nur an den Vorgang in Berlin, wo die erneute Kandidatur eines Bundestagsabgeordneten mit Falschbehauptungen, die über die Medien verbreitet wurden, verhindert wurde. Das Phänomen, andere an den Pranger zu stellen, gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten, auch in der Kirche.
Ein leider schon verstorbener Jesuit, der Philosophieprofessor in München war, sagte vor Jahren, das größte Problem unserer Zeit – von der Partnerschaft über die Familie bis in die gesamte Gesellschaft hinein – sei die um sich greifende Unbarmherzigkeit. In der Tat werden etwa in den sozialen Medien ganz oft Menschen an den Pranger gestellt, aber nur äußerst selten wird dort einem Menschen, selbst wenn er Fehler gemacht hat, eine Brücke gebaut.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es soll nichts unter den Teppich gekehrt werden! Aber als Christen werden wir daran gemessen, wie wir mit eigenen Fehlern und den Fehlern anderer umgehen und ob dadurch Menschen Einsicht gewinnen und einen Neuanfang finden können. Deshalb möchte ich den Gedanken des schon erwähnten Jesuitenpaters aufgreifen und sagen: Was unserer Zeit am meisten Not tut, das ist Barmherzigkeit!
Wache Geister in Europa weisen auf die Notwendigkeit hin, dass es für das Zusammenleben der Menschen eine geistig-moralische, eine ethische Grundlage braucht. Wie nötig dies ist, das wird gerade an der nicht selten bedenklichen Wirkung von sozialen Medien deutlich. Das erlebt die Welt derzeit im Agieren der sogenannten Weltmächte. Mit Falschbehauptungen wird versucht, Politik zu machen, sich Vorteile zu verschaffen und andere zu diskreditieren.
Der besorgniserregende Umgang von Menschen untereinander, den wir in allen sozialen Schichten beobachten, weckt die Frage, wie es so weit kommen konnte. Was wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten versäumt, um dem vorzubeugen? Eine an christlichen Werten orientierte Erziehung war und ist verpönt. Wie oft war der Satz zu hören: „Mein Kind soll selbst entscheiden …“ anstatt Grundhaltungen zu vermitteln und zu prägen, wie sie sich vielen von uns in Kindertagen einprägte: „Was Du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu!“ Dieses Wort ist von der „Goldenen Regel“ Jesu abgeleitet: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“
Es reicht bei weitem nicht, eine Gesellschaft, einen Staat, die Europäische Union oder die Weltgemeinschaft nur auf wirtschaftliche Vereinbarungen abzustellen, denn es braucht für das Leben von Menschen weit mehr als Geld und Konsum. Es braucht vor allem Barmherzigkeit und von daher eine Haltung, die dem Leben dient und zum Leben verhilft, eine Haltung, aus der heraus wir mitwirken bei der Gestaltung der Welt in sozialer Gerechtigkeit, in Würde, in Respekt voreinander und Verantwortung füreinander und somit in Frieden und Freiheit.
Damit sind wir beim Evangelium des fünften Fastensonntags: Jesus macht an seinem Umgang mit der Frau, die des Ehebruchs bezichtigt wird, deutlich, dass kein Mensch frei von Fehlern ist, und dass jeder auf Entgegenkommen und Erbarmen angewiesen ist. Er bagatellisiert keineswegs den Fehler der Frau, er heißt ihn nicht gut, aber er baut ihr eine Brücke, damit sie aus dieser für sie schwierigen und leidvollen Erfahrung lernen und weiterkommen kann auf ihrem Weg durchs Leben.
Eine Theologin sprach im Blick auf diese Stelle vom „Zusammenprall zwischen Gesetz und Barmherzigkeit“. Doch das ist typisch für Jesus. Das zeigen die Beispiele vom barmherzigen Vater, dem Evangelium des vergangenen Sonntags, oder wie bei der Begegnung mit Zachäus, der vom Baum steigt und ein neues Leben beginnt. Immer wieder wird deutlich: Der Menschensohn kam, um Sünder zu retten.
Zum Leben gehört nicht nur das Gesetz, das Mitschwimmen im Strom der Selbstbewussten, der Selbstzufriedenen und Selbstgerechten, sondern vor allem und bei allem Barmherzigkeit. Nach Recht und Gesetz der damaligen Zeit war die Forderung der Pharisäer rein sachlich in Ordnung, aber sie war nicht lebensdienlich.
Jesus lehrte im Tempel, dem Ort der Gegenwart Gottes. Dort schrieb er auf die Erde, also den Boden, auf dem wir stehen, und damit schreibt er uns grundsätzlich ins Stammbuch, auf SEIN Verhalten zu achten. „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“
Schon im 13. Jahrhundert hat der große Theologe Thomas von Aquin entgegen der Auffassung, das Prinzip der Gerechtigkeit allein könne die Welt gestalten, betont: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.“ Wer den Versuch unternimmt, Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen, ohne sie mit Entgegenkommen und Erbarmen zu verbinden, wird scheitern. Ein solches Unternehmen endet letztlich in Unmenschlichkeit, in Blut und Tränen – wie die Welt immer wieder leidvoll erfahren musste und erfährt. Wer nur Gerechtigkeit will, schafft keinen Frieden; er zerstört am Ende Menschen und Welt. Das Prinzip der Gerechtigkeit ist ohne Entgegenkommen und Barmherzigkeit nicht durchzuhalten. Das will Jesus uns klarmachen.
Die Konsequenzen, die wir daraus ziehen sollten, sind:
- Wo Gott ankommt bei den Menschen, wo seine Botschaft angenommen und im Miteinander umgesetzt wird, erhält das Leben eine neue, eine bessere Qualität. Da gelingt Menschen auch nach Fehlern ein neuer Anfang und damit eine gute Zukunft.
- Im Blick auf die Erziehung von Kindern gilt: Wenn Menschen nicht nur Sach- und Fachwissen erhalten, sondern vor allem Herzensbildung, geht die Welt einer lebenswerten Zukunft entgegen, da braucht kein Mensch um sein Leben zu fürchten.
- Im Blick auf das Gemeinwesen bedeutet das: Wo menschliche Ordnungen, wo wirtschaftliche Notwendigkeiten, wo Recht und Gesetz gepaart sind mit Entgegenkommen und Barmherzigkeit, da kann Leben und Zusammenleben gelingen.
Eine immer lautere „Empörungsgesellschaft“ wird die Herausforderungen der Welt und unseres Lebens nicht meistern. Wenn aber Entgegenkommen und Barmherzigkeit und von daher Liebe und Zuversicht unter uns wachsen, dann wird das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft gelingen!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Wir heute
Es ist sicher,
dass wir schneller fahren,
höher fliegen und weiter sehen können
als Menschen früherer Zeiten.
Es ist sicher,
dass wir mehr abrufbares Wissen
zur Verfügung haben
als jemals Menschen vor uns.
Es ist sicher,
dass Gott sein Wort noch niemals
zu einer besser genährten, gekleideten
und besser gestellten Gemeinde gesprochen hat.
Nicht sicher ist,
wie wir bestehen werden vor seinem Blick.
Vielleicht haben wir
mehr Barmherzigkeit nötig
als alle, die vor uns waren.
(Lothar Zenetti)