Die Predigt im Wortlaut:
„Das crazy“ ist das Jugendwort des Jahres 2025. Früher hätte man gesagt: „Das ist verrückt“. Die sogenannte Generation Z sagt lieber „Das crazy“, benutzt den Ausspruch also als Allzweckfloskel. Wenn man überrascht oder sprachlos ist, oder man möchte etwas ironisch oder schulterzuckend kommentieren oder einem fällt einfach keine passende Antwort ein: „Das crazy“ passt immer. In der offiziellen Erklärung der Jury heißt es: „Das crazy … haust du raus, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, gerade keine Lust hast zu antworten oder einfach höflich bleiben willst, um das Gespräch am Laufen zu halten“. „Das crazy“ repräsentiere, so die Jury, gekonnt den Zeitgeist – und genau das sei das Ziel der Wahl.
Gerade im Blick auf den Zeitgeist scheint „Das crazy“ angebracht, denn die Entwicklung in unserem Land ist sehr bedenklich, um es deutlicher zu sagen: verrückt! Eine aktuelle Studie der TU Dresden zeigt: 81,5 Prozent der Deutschen empfinden die Gesellschaft als polarisiert, gespalten. Besondere Reizthemen sind u.a. Zuwanderung, Klimaschutz, Unterstützung für die Ukraine und die Regenbogenfahne. Nur sieben Prozent unserer Bevölkerung nehmen keine Spaltung wahr, berichtet die „Frankfurter Allgemeine“.
Der Studienleiter erklärt, dass die ideologische Polarisierung inhaltliche Meinungsunterschiede betreffe, die affektive Polarisierung bedeute die emotionale Abwertung Andersdenkender. Das zeigt sich in diesen Tagen in den organisierten Protesten gegen den Bundeskanzler bzw. eine von ihm im Zusammenhang mit dem Verhalten einzelner Migranten getätigten Aussage. Auf vielen Plakaten ist allerdings weniger Kritik an seiner Formulierung zu lesen, sondern es geht um seine Person. Ebenso bedenklich sind Anschläge, Attacken, Beleidigungen und Hass-Botschaften gegenüber Menschen, deren Haltung oder Meinung nicht geteilt wird. Das erfahren Politiker auf allen Ebenen leidvoll – von der Bundespolitik bis zu Kommunen – zunehmend stärker, aber auch Menschen jüdischen Glaubens.
Die Studie stellt fest, dass insbesondere ältere Menschen, Männer und Geringverdiener besonders stark affektiv polarisiert sind. Zudem fällt auf: Wer sich politisch klar ‚links‘ oder ‚rechts‘ verortet, ist stärker polarisiert. Besonders ausgeprägt ist die emotionale Ablehnung Andersdenkender bei Anhängern einzelner Parteien. Der Studienleiter empfiehlt wörtlich: „Verbal abrüsten, um die Sache ringen, den Empörungsunternehmern nicht in die Polarisierungsfalle gehen, Probleme lösen und um Zustimmung werben – auch dann, wenn es Mut erfordert, weil die Zeitenwende in vielen Feldern Veränderungen erfordert.“
„Das crazy“ – die Entwicklung ist verrückt und die Frage macht Sorge, wohin sich das Zusammenleben in unserem Land entwickelt. In zunehmend mehr Fragen der Gesellschaft, des Lebens, der geschichtlichen Entwicklung maßen sich einige Zeitgenossen unserer Tage ein – wohlgemerkt – endgültiges Urteil an und wollen es für alle verbindlich machen. Egal um was es geht. So wird z.B. bei Fragen zur Vergangenheit nicht mehr nach dem zeitgeschichtlichen Kontext, den damaligen Lebensumständen gefragt. Das Urteil fällt meist aus der Sicht heutiger Erkenntnisse und aktueller Ansichten und Überzeugungen. Diese Verhaltensweise in unseren Tagen beinhaltet damit aber die Absolut-Setzung unserer eigenen Haltung. Damit schwingt sich das das eigene Ich zum höchsten und absoluten Maßstab auf.
Von daher drängt sich die Frage auf, wie die Nachwelt in einigen Generationen oder Jahrhunderten unsere Zeit und damit unser Leben und Verhalten, unsere Politik beurteilen wird, z.B. unseren Umgang mit Gottes guter Schöpfung, dem „billigen“ Konsum auf Kosten von Menschen – darunter zahllose Kinder – in Entwicklungsländern, der natürlichen Umwelt, dem Klima, oder mit dem Problem, warum sich unser Volk seit Jahrzehnten gegen Kinder entschieden hat und damit gewaltige demographische Probleme entstanden sind. Oder wie werden wir bewertet in der Frage, wie würdevoll wir mit werdendem wie – am Ende – auch mit sterbendem Leben umgegangen sind, damit verbunden die Selektion und Unterscheidung zwischen wertem und unwertem, zwischen gewolltem und nicht gewolltem Leben. Die Geschichte wird ihr Urteil über unsere Epoche sprechen, wie wir mit schwachen, behinderten, gebrechlichen, alten Menschen umgegangen sind, welche Wertschätzung, Solidarität und Hilfe sie erfahren haben, oder wie wir unsere Mitverantwortung für eine globale soziale Gerechtigkeit wahrgenommen haben.
Ich will es bei den wenigen Beispielen belassen, die uns eigentlich unruhig machen müssten, wie wir – weitgehend unbedacht – mit dem Leben umgehen und in welchem Licht die Nachwelt unser Verhalten einmal betrachten wird.
Auch wenn Einzelne der „Gesinnungsrichter“ unserer Tage in ihren täglichen Kommentaren ob in Zeitungen, im Hörfunk, im Fernsehen oder über „social media“ weniger objektiv zu berichten scheinen, sondern eher ihre Sicht der Dinge kundtun, sie stoßen damit keineswegs ein reflektiertes Nachdenken an, sondern verstärken die Polarisierung.
Wie einen Wink des Himmels erachte ich, dass an diesem Sonntag in der Leseordnung der Kirche im Evangelium dieses Gleichnis Jesu den Menschen zu bedenken gegeben wird:
In jener Zeit erzählte Jesus einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, dieses Gleichnis: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach bei sich dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. …
Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Wir leben in einer Kultur der Selbstgerechtigkeit, die nicht einmal bei unsicherer Sachlage vorsichtig agiert, sondern stets ihr Urteil spricht. Und selbst bei der vagen konkreten Annahme eines vorsätzlich schuldhaften Verhaltens oder Versäumnisses wird jedes Maß an Barmherzigkeit ausgeschlagen. Entsprechend stellt Jesus fest:
„Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“
Ob es die eingangs erwähnten Reizthemen wie Zuwanderung, Klimaschutz, Unterstützung für die Ukraine und die Regenbogenflagge sind oder die Gendersprachregelungen oder die Diskussion um Vegi-Wurst oder Vegi-Schnitzel usw. – ich sehe eine bedenkliche Entwicklung, nämlich die Dominanz der medial verbreiteten gängigen Meinung zu allen Themen und Lebensbereichen.
Manche sprechen von einem Kulturkampf. Ich möchte sagen, es gilt aufzupassen, dass wir nicht noch stärker in eine Kultur verfallen, in der die scheinbar gängige Meinung, auch wenn sie noch so fragwürdig ist, zum Maßstab gemacht wird, nur weil sie auf allen Kanälen und im Blätterwald der Medien verbreitet wird. Auch die Debatten in den politischen Parlamenten fallen nicht durch Sachlichkeit und den Austausch von Argumenten auf, sondern durch verbalen Klamauk, mit dem der politische Gegner niedergemacht werden soll.
Gerade jetzt sollte Kirche ein Beispiel geben, also Vorbild sein, wie unterschiedliche Meinungen und Grundhaltungen miteinander abgestimmt und geklärt werden, um einen gemeinsamen Weg zu finden, der der Botschaft Jesu und seiner Sendung entspricht. Aber genau jetzt erweist sich die Kirche als Spiegelbild der Gesellschaft und geht in Gremien und Foren nicht gerade zimperlich mit Haltungen und Ansichten um, die nicht den jeweils eigenen entsprechen. Für mich sind nicht die Themen erschreckend, die in kirchlichen Gremien diskutiert werden, sondern der Umgang mit den Stimmen, die Bedenken vortragen. Auch hier ist man nicht zimperlich, Menschen in eine Ecke zu schieben oder an den Pranger zu stellen.
Im Gespräch mit einem Mandatsträger in der vergangenen Woche – nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht – über die Bedeutung von Kirche und der Notwendigkeit ihres Wirkens in und für die Gesellschaft, auch darüber, dass christlich geprägte Politiker unverzichtbar sind, sagte dieser: „Ich glaube übrigens, dass wir als Christen die Menschen am ehesten durch ehrliche und wertschätzende Beziehungen überzeugen. Daran mangelt es enorm.“
Wir leben in einer Zeit mit bedenklichen Entwicklungen – u.a. der überzogenen Selbstgerechtigkeit, des überhöhten Ichs und damit einhergehend einer „Empörungsgesellschaft“. In diesen Fällen passt „Das crazy“. Umso mehr sollten wir uns der Frage stellen, durch welche Haltung wir dem Leben gerecht werden und ein menschliches und faires Miteinander gestalten und damit der nachwachsenden Generation mehr an wegweisender Botschaft vermitteln als „Das crazy“.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Christus hat keine Hände,
nur unsere Hände
um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße,
nur unsere Füße,
um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen,
nur unsere Lippen,
Menschen von ihm zu erzählen.
Deshalb gilt sein Auftrag uns allen:
Geht hinaus in alle Welt
und verkündet in Wort und Tat die Frohe Botschaft.
(Gebet aus dem 14. Jahrhundert)





