Die Predigt im Wortlaut:
Eine bedenkliche Entwicklung in unserer Gesellschaft:
- Die Sorge um eine zweite Welle der Corona-Pandemie treibt die Verantwortlichen im Staat um.
Dennoch versammelten sich am vergangenen Samstag allein in Berlin rund 40 000 Menschen und demonstrierten. Sie forderten den Rücktritt der Bundesregierung sowie ein Ende der Schutzauflagen und Alltagsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Auf Plakaten stand „Stoppt den Corona-Wahnsinn“ und „Corona-Diktatur beenden“. Immer wieder skandierte die Menge „Widerstand“ und „Wir sind das Volk“. - Rechte Chaoten versuchten den Reichstag zu stürmen und schwenkten zahlreiche Reichsflaggen; darunter auch einige anders gesinnte Demonstranten mit USA-Flaggen, Fahnen südamerikanischer Staaten, Russland-Fahnen und sogar Regenbogenflaggen.
- Wenn Busfahrer, Zugbegleiter, Verkäuferinnen auf die Maskenpflicht hinweisen, werden sie gewalttätig angegangen.
- Aber nicht nur im Zusammenhang mit Corona eskaliert die Gewalt. Es häufen sich die Berichte über Gewalt gegen Rettungskräfte wie Sanitäter und Feuerwehrleute, aber auch gegen Polizisten im Dienst. Ebenso werden unmittelbare zwischenmenschliche Konflikte bis hinein in Familien immer häufiger gewalttätig ausgetragen.
- Am vergangenen Sonntag, so wurde berichtet, stand ein Mann in einer Kirche in Berlin während des Gottesdienstes auf, spuckte auf den Boden, rief einige hasserfüllte Parolen in den Raum, ging nach vorne und traktierte den Pfarrer mit Boxhieben.
Diese zunehmende Respektlosigkeit gegen Mitmenschen macht große Sorgen! Aber Gewalt zeigt sich nicht nur in schlagkräftigen Taten, sondern auch in Worten. So bereitet auch das wieder in Mode gekommene Denunziantentum vielen Menschen in unserem Land große Sorgen.
Was vom Nazi-Staat und anschließend von der DDR überwunden schien, ist wieder gängige Praxis: Menschen werden angezeigt und zwar nicht nur, wenn sie verbotenerweise „Corona-Partys“ feiern, sondern auch wenn sie nach persönlichem Empfinden irgendwelche Vorschriften nicht einhalten. Ebenso werden Menschen und ihr Ruf bewusst z.T. stark beschädigt durch bestimmte – auch erfundene oder bewusst falsche bzw. nicht korrekte – Behauptungen.
Vor einiger Zeit las ich in einem ehre ironischen Kommentar zu zwei öffentlich erhobenen Rücktrittsforderungen: „Unerhört, sie treten einfach nicht zurück. Obwohl es doch die Medien ganz entschieden gefordert haben …“ Es geht oftmals weniger um die Sache, als um Menschen. Deshalb ergänzte der Kommentator: „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht?“
Den Versuch, aus möglichen Fehlern und Schwächen anderer Kapital zu schlagen, finden wir in allen gesellschaftlichen Schichten, auch da, wo es weniger um finanziellen Profit geht. Vielmehr will man durch Klatsch und Tratsch sich selbst in ein besseres Licht rücken und andere fertigmachen, indem man alles Mögliche an die große Glocke hängt, selbst Dinge, die gar nicht stimmen oder auf jeden Fall so nicht stimmen.
In der Politik z.B. erleben wir ständig, wie jede Aussage, jede Äußerung, jede Entscheidung des politischen Gegners sofort niedergemacht wird, wie sogar gegen besseres Wissen falsche Behauptungen aufgestellt werden. Selbst in positiven Entwicklungen, Ereignissen und Ergebnissen sucht man das Haar in der Suppe, um den Anderen und seine Leistung schlechtzureden.
Gewalttätiges Verhalten gibt es in Taten, aber auch mit Worten, wenn man z.B. einem anderen die Schuld für etwas Misslungenes zuschieben will, was man vielleicht sogar selbst verursacht hat. Dann werden alle möglichen Leute angerufen, um irgendetwas Nachteiliges über andere weiterzusagen, von dem sie vielleicht nur gehört haben und gar nicht genau wissen, ob es stimmt.
Mir stehen jedes Mal die Haare zu Berge, wenn jemand einen Satz beginnt: „Hast du schon gehört …?“ Denn darauf folgt meistens irgendein Gerücht aus der „Buschtrommel“ oder der Versuch, einen anderen schlechtzureden. Da hat ein Mensch, zumal einer, der vielleicht tatsächlich einen Fehler gemacht hat, keine Chance, dass seine Situation wieder gut werden kann. Er wird regelrecht verfolgt, gehetzt, bis er zur Strecke gebracht ist. Das ist genauso schlimm wie die Methode, mit anonymen Anschuldigungen – zumal wenn sie nicht zutreffen – Menschen zu Fall bringen zu wollen.
Der uralte Beichtspiegel gab nicht nur zu bedenken: „Habe ich falsche Dinge über meinen Nächsten behauptet?“, sondern sogar „Habe ich wahre Fehler eines anderen ohne Not weitergesagt?“!
Was läuft falsch in unserer Gesellschaft, dass es zu so bedenklichen Entwicklungen kommt, ob es die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen betrifft oder die Gewalttätigkeiten gegen Rettungskräfte sowie im unmittelbaren zwischenmenschlichen Miteinander wie auch in den verschiedenen gesellschaftspolitischen Diskussionen?
Jahrzehntelang wurde die Erziehung von Kindern mit Blick auf die Frohe Botschaft Jesu und von daher nach christlichen Wertmaßstäben madig gemacht. „Mein Kind soll sich einmal selbst entscheiden können!“, hieß es. In Bezug auf das unmittelbare Miteinander wie auch in der Gesellschaft insgesamt kam es mehr und mehr zu einer Hyper-Individualisierung, die nur noch das eigene Ich sieht und den Anderen nicht mehr wahrnimmt. Selbstverwirklichung wurde und wird sehr einseitig verstanden. Das Gemeinwohl interessiert immer weniger.
Das Evangelium dieses Sonntags dagegen leitet uns zu fairem, wohlwollenden Verhalten an! Jesus zeigt uns einen Weg auf, wie wir sogar mit den Fehlern unserer Mitmenschen umgehen können, um letztlich dazu beizutragen, dass eine schwierige Situation wieder bereinigt und ein befreiter Neuanfang gelingen kann.
Denn steht der vermeintliche „Sünder“ erst einmal am Pranger, dann können alle über ihn herziehen oder ihn verachten. Und aus dieser Ecke wieder herauszukommen, ist nicht leicht. Voltaire sagte: „Etwas bleibt schon hängen!“
Deshalb weist Jesus auf einen sehr sensiblen Umgang miteinander hin. Der Evangelist Matthäus erinnert an diese Regeln, die in der jungen Christengemeinde aufgestellt wurden und die auch heute noch Beachtung verdienen:
- Den Fall bzw. Vorgang eingrenzen! Ihn nicht an die große Glocke hängen. Jesus empfiehlt das Gespräch unter vier Augen. Falls der Betreffende nicht zur Einsicht kommt, evtl. später ein Gespräch mit einem oder zwei Zeugen führen.
- Den Anderen zurückgewinnen wollen! Man darf ihn nicht demütigen, nicht ausgrenzen, ihm nicht die Wahrheit um die Ohren schlagen. Der Apostel Paulus rät deshalb im Epheserbrief: „Die Wahrheit in Liebe sagen“.
- Erst wenn diese Bemühungen versagen, dann die Gemeinde einbeziehen! Aber nicht den Sünder fertigmachen wollen, sondern bedenken: In der Mitte der Gemeinde lebt der barmherzige Gott. Darum soll die Gemeinde für den Sünder beten und, wenn es eben möglich ist, ihm verzeihen, um ihm so einen Ausweg aus seinem Versagen aufzuzeigen.
Das Evangelium macht in zutiefst menschlicher Weise deutlich, dass es das Leben und das Wohlergehen, das Glück und die Zukunft aller im Blick hat. Ob das allerdings durch eine staatliche Gesetzgebung erreicht wird, bezweifle ich, denn darin wird mehr und mehr der Bezug zum christlichen Menschenbild gemieden.
Und darüber hinaus überträgt Jesus denen, die zu ihm gehören, einen entscheidenden Auftrag: „Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ D.h. durch den offenen, aufrichtigen und immer versöhnlichen Umgang miteinander können Fehler und Verirrungen gelöst werden und Menschen einen neuen Anfang finden.
Wie dringend und notwendig dieser sensible und behutsame Umgang miteinander ist, machen die zunehmend vielen bedenklichen und besorgniserregenden Entwicklungen in unserer Gesellschaft deutlich – sei es durch die immer aggressiveren Gewalttätigkeiten oder die verletzenden und vernichtenden Worte über andere.
Eine friedvolle Welt und damit ein lebenswerteres Miteinander erreichen wir gewiss nicht mit Gewalt und vernichtenden Worten, auch nicht mit Denunziation und schon gar nicht mit beleidigenden Gesten wie z.B. bei der Aktion vor dem Reichstag. Den Weg dazu erreichen wir, wenn wir der Frohen Botschaft Jesu folgen. „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dann wird auch das Miteinander gut!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Wir heute
Es ist sicher,
dass wir schneller fahren,
höher fliegen und weiter sehen können
als Menschen früherer Zeiten.
Es ist sicher,
dass wir mehr abrufbares Wissen
zur Verfügung haben
als jemals Menschen vor uns.
Es ist sicher,
dass Gott sein Wort noch niemals
zu einer besser genährten, gekleideten
und bessergestellten Gemeinde sprach.
Nicht sicher ist,
wie wir bestehen werden vor seinem Blick.
Vielleicht haben wir
mehr Barmherzigkeit nötig
als alle, die vor uns waren.
(Lothar Zenetti)