Die Besinnung zum St. Martinstag im Wortlaut:
Jahr für Jahr zieht das St. Martinsfest in allen Städten und Dörfern unvorstellbar viele Kinder und ihre Familien an. Im Licht der Laternen strahlen die Augen, und die überlieferte Geschichte des hl. Martin berührt die Menschen und bewegt sie im wahrsten Sinne des Wortes – nicht nur Kinder. Denn das Licht und der geteilte Mantel sind Hinweise auf eine unendliche Liebe.
Sie wird darin deutlich, dass Martin die Schwäche, die Not, die Hilflosigkeit des Armen nicht offenlegt und diskutiert, sondern sie spontan zudeckt und ihm mit seinen Möglichkeiten Hilfe zukommen lässt. In dieser schlichten Geste leuchtet Gottes Liebe auf.
Martin macht Gottes herabsteigende, uns suchende Liebe deutlich.
Unsere Liebe muss bei diesem Maßstab ansetzen. Sie muss sich messen lassen an der Bereitschaft, notfalls das geliebte eigene Leben oder zumindest Teile davon herzugeben. Dieser Maßstab zählt, wenn etwas Liebe sein soll, alles andere wäre nur Spielerei. Die Feier des Martinstag ist kein Selbstzweck. Es geht nicht um eine fromme, sentimentale Tradition, die folgenlos bleiben kann.
Wer sich geliebt weiß, verändert sich. An jungen Leuten merken wir das manchmal. Wenn sie auf Freiersfüßen gehen, werden selbst die größten Rabauken liebenswürdig. Sie zeigen sich von ihrer besten Seite. Er oder sie sind verändert, weil ein anderer, eine andere sie mit Sympathie und Liebe anschaut. Und manchmal sagen dann die Eltern: „Ich kenne dich ja gar nicht wieder!“
Über Liebe nachzudenken ist nur dann wirklich möglich, wenn wir dabei auch über die Nächstenliebe reden. Liebe ist nur Liebe, wenn sie in Tat und Wahrheit liebt. Genau darauf verweist Jesus mit der sogenannten Gerichtsrede, die Matthäus am Ende seines Evangelium festgehalten hat: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Er misst die Menschen daran, wie konkret ihre Liebe geworden ist. Das ist ein anspruchsvolles Wort für uns Christen auch heute.
Martin ist nicht nur Vorbild einer warmherzigen Nächstenliebe, die Tradition hat sein Leben immer verknüpft mit Jesus. Das wissen sogar Kinder zu erzählen.
Wenn es so ist, dass Gottes Gott-Sein sich in der Liebe erweist und diese Liebe daran erkannt wird, dass ER um unseretwillen schwach wird und unsere Schwäche mit seiner Liebe umgibt und dies konsequent durchhält bis zum Tode, dann bedeutet das eine Revolution im damaligen herkömmlichen Gottesbild der Religionen. Das hat der Völkerapostel Paulus erkannt, wenn er im Nachdenken über Jesu Tod am Kreuz und dessen heilbringende Wirkung für uns schreibt: „Diese Botschaft ist den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit.“
Wir sind gewohnt zu fragen: Braucht es nicht einen starken Gott, um alles Schlimme und Böse zu vernichten? Braucht es nicht Macht und Gewalt, um die Welt in Ordnung zu bringen? Wie kann Gott noch Gott sein, wenn er sich klein macht, unscheinbar und verletzlich?
Mit solchen Fragen hat das antike Heidentum, aber auch alles nachchristliche Heidentum bis in die Moderne hinein den christlichen Glauben an den gekreuzigten Gott ad absurdum führen wollen. Das Spottkreuz vom Palatin, mit dem ein heidnischer Soldat seinen christlichen Kameraden ärgern wollte – eine am Kreuz hängende Gestalt mit Eselskopf und dazu die gekritzelten Worte: „Alexamenos betet zu seinem Gott!“ - das bringt auf den Punkt, warum das Christentum als Störung, ja als Provokation der herkömmlichen Religion empfunden wurde.
Die Christen verkünden und bezeugen einen Gott, der die Verhältnisse auf den Kopf stellt: Die Hingabe steht über der Selbstbehauptung, die Schwachheit über der Macht, die Liebe über dem Hass und jeder Form von aggressiver Abgrenzung. Im glaubwürdigen Zeugnis christlichen Lebens leuchtet auf, was Jesus immer wieder von Gott sagt und was er selbst im eigenen Leben vollzieht: Liebe, die für uns bis zum Äußersten geht.
Heute ist allenthalben von der Wiederkehr der Religion die Rede. Ich bin sehr vorsichtig mit dieser Diagnose, denn die Religion war auch in der Vergangenheit da, wir haben sie im angeblich aufgeklärten Europa nur nicht bemerkt. Was jedoch besorgniserregend an dieser neuen Wahrnehmung von Religion ist, dass damit eine Angst vor der Rückkehr gewalttätiger Götter verbunden ist. Der Gott des christlichen Glaubens wird leider allzu oft mit solchen Gottesvorstellungen gleichsam in einen Topf geworfen und jeder Christ, der seinen Glauben ernst nimmt, als potentieller Terrorist angesehen.
Aber könnte diese Angst vor der Religion auch damit zusammenhängen, dass wir in den Ländern der europäischen Christenheit vergessen haben, welchen Gott uns das Evangelium verkündet, nämlich den Gott und Vater Jesu Christi, der seine Macht in seiner Liebe erweist, und dessen Liebe sich um unseretwillen arm, klein und gering macht – in der Geburt Jesu in einem Stall ebenso wie in seiner Hinrichtung am Kreuz.
Diesen Gott gilt es neu und tiefer zu erkennen – um darin alle Angst untergehen zu lassen, die meint, Gott könne nur groß sein, wenn wir Menschen klein und armselig sind.
Es ist genau umgekehrt, dafür steht unser Glaube, dafür steht Martin, dafür stehen viele Heilige der Nächstenliebe: Gott will, dass wir groß sind, dass wir heil sind, dass wir reich werden, wenn wir SEINE Liebe weitergeben. Die Liebe Gottes macht unser Leben reich und ist unsere Rettung.
Martin hat Gottes hingebende, sich verschenkende Liebe als entscheidend für die Welt erkannt. Diese Liebe hat sein Leben und Handeln bestimmt, und ihn von daher selbst beliebt und liebenswert gemacht – für uns Menschen und noch mehr für Gott.
Ich bin überzeugt, dass dies von jedem von uns gesagt werden kann, der gerne das Martinsfest mitfeiert. Jeder hat Menschen an seiner Seite, die dankbar sind dafür, nicht vergessen, übersehen, allein gelassen zu werden. Auch Ungläubige, die mit Kirche nichts anfangen können und nicht wissen, was der Himmel Gottes ist, sagen das manchmal von einem guten Menschen in ihrer Nähe: „Dass es dich gibt, ist für mich wie ein Geschenk des Himmels!“
So kann unsere Nächstenliebe, mag sie auch oft nur schwach und schnell erschöpft sein, doch einen anderen, eine andere mit einer Liebe berühren, die zum Zeichen für Gottes Liebe wird. Einem anderen zuhören, mit ihm ein Stück seines Lebensweges gehen, Geduld haben mit Kindern und Enkelkindern, einen Kranken nicht verlassen, für jemanden in Bedrängnis Zeit und Nervenkraft einsetzen, einen Einsamen besuchen, einen Leidenden trösten – und schließlich für jemanden beten: Das sind Werke der Barmherzigkeit, die auch heute gefragt sind.
Es ist gut, dass es Menschen gibt, die diese Botschaft tief in ihrem Herzen verstehen. Wenn wir davon etwas weitergeben, jeden Tag neu, dann werden wir mehr und mehr zum Licht, das unsere Welt hell macht und den Weg zum Leben in Fülle führt.
Der Zug der Kinder mit ihren Laternen am Martinstag will daran erinnern.