Zwei von drei Gästen hatten demnach mit besonderen sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen. Jeder zweite Gast war in finanzieller Not und gut jeder fünfte war mit einer psychischen Erkrankung oder
Abhängigkeitserkrankung belastet. Fast immer handelt es sich um Menschen, die eine Fülle von Problemen mit sich herumtragen. Ursache und Auswirkung sind dabei schwer auszumachen. Oft führen Arbeitslosigkeit, gescheiterte Beziehungen, Alkohol und Drogen, der Verlust der Wohnung oder eines Angehörigen aber auch Schulden zu Depressionen, Ängsten oder Psychosen. Manchmal kommt auch erst die Krankheit und dann der soziale Abstieg. „Aufgrund ihrer komplexen Probleme schaffen es viele Betroffene nicht, eine Fachberatung aufzusuchen. Sie kommen dann gerne in die Bahnhofsmissionen - und können erstmal nur da sein und sich stärken“, so Hedwig Gappa-Langer, Referentin des Caritas-Fachverbandes IN VIA Bayern e.V. bei der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern. „In der vertrauensvollen Atmosphäre kann es gelingen, dass sie sich für konkrete Hilfen öffnen – und damit für manche die Abwärtsspirale gestoppt wird oder sich sogar wieder neue Perspektiven finden.“
Eins jedenfalls scheint sicher: „Armut ist ein ganz großes Problem“, so ihr Kollege Harald Keiser, Referent beim Diakonischen Werk Bayern. Ein anderes ist die Einsamkeit. Deshalb erwartet Harald
Keiser, dass die Corona-Krise „unsere Gäste, also Menschen, die in der Gesellschaft am Rande leben, besonders hart trifft.“
Einige Bahnhofsmissionen vermerkten im vergangenen Jahr besonders drastische Veränderungen. In Aschaffenburg etwa stieg die Zahl der Kontakte mit armen oder von Armut bedrohten Menschen binnen eines Jahres um 36 Prozent auf 13 006 (gesamt: 17 000 Kontakte). „Auch wenn viele unserer Besucherinnen und Besucher ein Dach über dem Kopf haben, merken wir schon, dass die prekäre finanzielle Situation eine große Rolle spielt“, sagt Sandra Bauer-Böhm, Leiterin der dortigen Bahnhofsmission. So verbuchten die Mitarbeitenden im Berichtsjahr 80 Prozent mehr materielle Hilfen - vom Shampoo bis zum Wollschal - als noch im Jahr zuvor. Zudem wurde deutlich mehr Essen ausgegeben. Die Zahl der Kriseninterventionen hat sich gar verfünffacht. Viele Stammgäste, gerade auch Ältere mit schmaler Rente, kommen aber nicht nur wegen finanzieller Sorgen, sondern auch weil sie völlig auf sich alleine gestellt sind. „Ein Besuch in der Bahnhofsmission hilft, den Tag zu strukturieren“, so Sandra Bauer-Böhm, „das ist ganz wichtig.“ Schmalzbrot und Tee helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen, „oft ist das aber auch eine Art Notversorgung.“ Und die ist momentan nötiger denn je.
Deshalb ist Bahnhofsmission Aschaffenburg, die zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen für kurze Zeit ihre Pforten geschlossen hat, ab heute wieder stundenweise für Bedürftige da. Sie bietet unter Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern besonderen Schutzvorkehrungen Beratungen, Nothilfen sowie Tee und Schmalzbrot. Außerdem hat Sandra Bauer-Böhm im Vorfeld Telefone und die Rufnummer verteilt, unter der sie für Gespräche und Beratung zur Verfügung steht. Ihre Botschaft: “Wir lassen Euch nicht alleine!"
In den Bahnhofsmissionen treffen sich überwiegend Menschen, deren Leben irgendwann aus dem Ruder gelaufen ist. Wer sich ausruhen will, ruht sich aus. Wer erzählen will, erzählt. Und das ist den meisten ein großes Bedürfnis. „Wir begegnen unseren Besucherinnen und Besuchern respektvoll und auf Augenhöhe“, sagt die Leiterin der Bahnhofsmission Erlangen, Claudia Steubing, „wir hören ihnen zu.“ Das wird geschätzt, „viele sind regelmäßig da, richten ihren Tag nach unseren Öffnungszeiten.“ Im Aufenthaltsraum waren die Plätze im vergangenen Jahr stets gut belegt: „Es kommen immer mehr Leute.“ Auch bei ihnen, das hat Claudia Steubing festgestellt, ist Armut und Einsamkeit ein großes Thema. Momentan gibt es unter Einhaltung der Gesundheitsvorschriften und des nötigen Abstands „Essen zum Mitnehmen“. Das wird gut und gerne angenommen: "Unsere Gäste sind sehr diszipliniert - und dankbar."
In der aktuellen Krise ist leider zu erwarten, dass sich für Wohnungslose und Bedürftige die Situation noch deutlich verschlechtern wird. Zudem geraten viele Menschen durch die Coronakrise in existentielle Not und benötigen dann Unterstützung. Damit werden auch alle sozialen Hilfeeinrichtungen, darunter die Bahnhofsmissionen, besonders gefordert sein. „Nur gemeinsam werden wir dies meistern. Hier braucht es in Zukunft eine noch intensivere Zusammenarbeit aller sozialen Dienste – zum Wohle der Bedürftigen“, so Gappa-Langer. Gleichzeitig erleben die Notversorgungseinrichtungen derzeit eine große Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung und von Unternehmen. Diese gelte es jetzt zu koordinieren. „Wir wünschen uns natürlich, dass die Kooperationen erhalten bleiben und beispielsweise Menschen sich dann weiterhin in den
Bahnhofsmissionen in irgendeiner Form engagieren. Wir brauchen jede und jeden, der auch in Zukunft mithelfen will!“, ergänzt Harald Keiser.
Rund 400 Ehrenamtliche und gut 40 hauptberufliche Mitarbeitende sind in den 13 bayerischen Bahnhofsmissionen im Einsatz, um ihren Mitmenschen in sozialen Notlagen oder beim Bahnreisen zu helfen. Fast 288 000 Kontakte mit Hilfesuchenden zählten die größtenteils ökumenisch geführten Einrichtungen in Bayern im vergangenen Jahr. Viele der Gäste sind in sozialen Schwierigkeiten, leiden unter Armut, Einsamkeit, Schulden oder psychischen Problemen. In Bayern tauschen sich die Bahnhofsmissionen in der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen aus. Dies organisieren der Caritas-Fachverband IN VIA Bayern e. V sowie das Diakonische Werk Bayern.
IN VIA Bayern Referat Bahnhofsmission