„Schadensfall Leben“, so lautet die Überschrift zu einem Artikel mit einer Botschaft, die mich erschreckt. Vor wenigen Tagen habe ich ihn gelesen: Gentests werden zu „Propheten der menschlichen Zukunft, des Individuums“ – und das bereits Monate vor der Geburt.
Medizinforscher in Washington haben eine Methode entwickelt, genauer: verfeinert, wonach das gesamte Erbgut eines Embryos schon in der neunten Schwangerschaftswoche allein durch die Analyse des Blutes der Mutter und des Speichels des Vaters bestimmt werden kann. Man braucht keine Fruchtwasseruntersuchung mehr – allerdings, wie ich meine, mit schwerwiegenden Folgen.
Das Wissen über „normale“ und abweichende Erbsubstanz lässt bereits in der frühesten Phase eine Frau „guter Hoffnung“ erfahren, „welche genetischen Zeitbomben in den Zellen des Ungeborenen ticken“ – schreibt Der „SPIEGEL“.
Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ merkt an, „ob aber eine bestimmte Genmutation tatsächlich zu einer Krankheit führt und wie schwer diese später im Leben verläuft, ist aus den Genomdaten selten ablesbar. Auf dieser Grundlage wird zu Fehlinterpretationen der Genomdaten geradezu eingeladen.“
In den kommenden Wochen soll ein bereits in Amerika erhältlicher Bluttest auch bei uns auf den Markt kommen, der ohne die belastende Fruchtwasseruntersuchung eine Voraussage des Down-Syndroms erlaubt. Die sich überstürzenden Durchbrüche bei der pränatalen Diagnostik markieren – wie der „SPIEGEL“ sagt – eine „Zeitenwende“. Es handele sich um Methoden, die für immer verändern könnten, „wie wir mit ungeborenem Leben umgehen.“
Sicher ist schon jetzt: „Es wird mehr Mütter und Väter geben, die verzweifeln, weil ihnen niemand mehr sagen kann, ob es gut ist, ihr Baby zur Welt zu bringen. Es wird sich zum Beispiel die Frage stellen, ob es erträglich ist, ein Kind mit einer winzigen Mutation zu gebären, die vielleicht später krank macht. Aber vielleicht auch nicht. Es wird selektiert werden …“, so der „SPIEGEL“.
Die menschliche Reaktion wird sein, dass Panik entsteht, und die endet in der zunehmend folgenschweren Unterscheidung von anscheinend „wertem“ und vermutlich „unwertem“ Leben fast immer in einer Abtreibung.
Außerdem geraten die Ärzte unter Druck, weil die Eltern sie vor Gericht zerren könnten, wenn sie auf eine bestimmte Normabweichung nicht hinweisen und das Kind später an einem daraus resultierenden Leiden erkrankt. Schließlich gibt es ja schon mehrere höchstrichterliche Urteile, die Ärzte zu Schadensersatzleistungen für ein behindert geborenes Kind verpflichten.
Früher oder später erzwingen die explodierenden Kosten im sogenannten Gesundheitssystem, dass gewisse medizinische Leistungen rationiert werden. Dann kommen Fragen auf wie z.B.: Wer kann, wer darf welche Behandlung, welches Medikament erhalten? Für wen „lohnt“ es sich überhaupt noch oder nicht mehr?
„Entscheidend ist bei allen bekannten wie unbekannten Abweichungen, wie sie zu deuten sind, von zahlreichen Messfehlern ganz zu schweigen“, so ein Kommentar.
Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio sieht in diesem Zusammenhang dramatische Entwicklungen auf uns zukommen: „Wir glauben, wir könnten Kinder zeugen, um sie im Zweifelsfall zu töten.“
Was ist das für eine Gesellschaft, die alles daran setzt, Leid auszublenden, anstatt sich ihm zu stellen und zutiefst menschlich damit umzugehen? Alles in allem wird die Entwicklung in der Bewertung menschlichen Lebens in Richtung einer rascheren „Entsorgung“ von leidenden oder auch nur möglicherweise von Leid betroffenen Menschen weitergehen.
Um dieser Unkultur entgegenzuwirken, richten wir nun unseren Blick auf das heutige Evangelium. Da sind wir dem Synagogenvorsteher begegnet, dem sein Kind unter den Händen wegstirbt, und der blutflüssigen Frau, die schon ein Vermögen ausgegeben hat, um gesund zu werden. Sie können wahrlich nur noch auf ein Wunder hoffen.
Doch obgleich das Kind lebt und die Frau nach zwölf elenden Jahren geheilt wird, handelt es sich hier nicht um mirakulöse Wundergeschichten, sondern um zwei Berichte von Heilungen, die einen realen Grund haben. In einem Fall wird ausdrücklich erwähnt, wodurch die Heilung bewirkt wurde, nämlich durch den Glauben: „Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen“. Tatsächlich bringt der Glaube Heil, er heilt das Leben.
Kürzlich erzählte mir jemand nach einem überstandenen Herzinfarkt: „Jetzt komme ich wirklich mal zur Besinnung. Alles, was sonst so wichtig war – Wochenende, Urlaub, Freizeitprogramm, Haus und Auto – das ist mit einem Mal alles weit weg. Ich frage mich: Was zählt wirklich? Worauf kann ich mein Leben bauen? Ja, ich habe auch das Beten wieder neu gelernt.“
Ebenso bin ich oft tief beeindruckt von der Gelassenheit und tiefen Zuversicht, die ich in der Begegnung mit alten Menschen am Ende ihres Lebens, manchmal auch mit Sterbenden, und ganz oft mit Menschen mit einer Behinderung erfahren darf. Hier werde ich beschenkt durch einen Glauben, der ein echtes Fundament ist, ja, der wirklich trägt im Leben wie auch im Leiden und im Sterben.
Ein Zweites: Bei der Heilung oder Auferweckung des Mädchens fällt auf: Es wird nicht berichtet, ob die Leute dadurch zum Glauben kamen, wohl aber erfährt man, dass sie außer sich waren vor Entsetzen. Unser Gott ist eben kein „Wellness-Gott“, der ein kleines Wunder vollbringt und dadurch alle Probleme beseitigt. Wenn Gott in mein Leben eingreift, dann ist das nicht immer mit Wohlgefühl verbunden, es kann auch Schrecken und Entsetzen zur Folge haben – allerdings einen heilsamen Schrecken und ein heilsames Entsetzen, was dazu führt, dass ich Wesentliches im Leben klarer sehe. Das kann man an zahlreichen Stellen in der Bibel nachlesen, und nicht wenige unter uns haben diese Erfahrung sicher auch schon gemacht.
Vor Jahren wurde ich zu einem Mann auf die Intensivstation gerufen. Alles deutete darauf hin, dass er die bevorstehende Nacht nicht überleben werde. Im Beisein seiner Frau und seiner Kinder spendete ich ihm die Krankensalbung. Dank der ärztlichen Bemühungen und seiner erstaunlichen Stabilität und – dessen bin ich mir sicher – des Beistandes seiner Frau, den er im Unterbewusstsein spürte, wendete sich das Blatt. Nach einer langen Phase der Behandlung und Erholung lebte er noch fast 14 Jahre, zwar mit gesundheitlichen Einschränkungen, aber er lebte gerne, gut umsorgt von seiner Frau.
Auch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen, dass Schwerstkranke keineswegs den Wunsch haben sterben zu können, wenn sie spüren dürfen, dass sie selbst in einer noch so schlimmen Krankheit nicht als Last empfunden werden, wenn sie Solidarität erfahren und erleben dürfen, dass sie geborgen sind in guten Händen.
Die Humanität einer Gesellschaft kann man daran erkennen, wie sie mit ihren Schwachen umgeht.
Mir geht es keineswegs darum, einer Apparatemedizin das Wort zu reden, es geht vielmehr darum, das Vertrauen der Menschen aus dem Glauben heraus zu stärken und ihnen die Hoffnung auf das Heil und die Hilfe Gottes zu vermitteln gerade dann, wenn sich die Last unserer gebrechlichen und unvollkommenen Existenz bemerkbar macht. Dabei ist zu bedenken, dass weit mehr Behinderungen nach der Geburt, im Laufe des Lebens etwa durch Unfälle oder nicht vorhersehbare Krankheiten entstehen.
Im Evangelium hat sich Jesus zum Weggefährten des Synagogenvorstehers gemacht, und die schwerkranke Frau kommt durch IHN in Berührung mit dem heilenden und helfenden Gott.
Wo für die Menschen alles aus schien und sie feststellten: „Deine Tochter ist gestorben“, setzte ER Zeichen für das Leben.
„Schadensfall Leben“, so weit darf es um Himmels willen nicht kommen. Das Leben ist kein Schadensfall. Jesus macht das Gegenteil deutlich. Er zeigt Mitgefühl gerade für die gebrechlichsten und vom Leid am stärksten betroffenen Menschen. So setzt er Zeichen für den Wert und die Würde des Lebens und stärkt die Hoffnung auf die Vollendung in IHM. Wenn wir IHM folgen, wird die Welt menschlicher.
Text zur Besinnung nach der Kommunion
Im Meer meiner Tränen
geweint und ungeweint
Lass mich die Muschel finden
in der die Perle schläft
Im Schmerz meiner Wunden
offen und verborgen
Lass mich die Tiefe finden
aus der die Quelle geborgen wird
Im Dornbusch meiner Sehnsucht
brennend und doch nicht verbrennend
Lass mich Dich finden
in dem ich lebe, mich bewege und bin