Die Predigt im Wortlaut:
Identität ist ein Reizwort unserer Tage, über das mit zunehmender Schärfe diskutiert wird. Als sich kürzlich der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem – wie ich meine – sehr profunden Artikel in der F.A.Z. zu der aktuellen Identitätspolitik äußerte, löste er eine heftige kontroverse Debatte aus, bei der ihm sogar Konsequenzen angedroht wurden. Dabei hatte er nur festgestellt, dass „Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität dominieren, Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender heftiger und aggressiver“ geführt werden, und der Gemeinsinn dadurch zerstört wird. Er schrieb: „Wurde Zugehörigkeit früher über Konfession und später über Ideologie signalisiert, so hat diese Funktion heute der Begriff Identität übernommen.“
Deshalb mahnt Thierse: „Wenn Vielfalt friedlich gelebt werden soll, dann muss diese Pluralität mehr sein als das bloße Nebeneinander sich voneinander nicht nur unterscheidender, sondern auch abgrenzender Minderheiten und Identitäten. Dann bedarf es grundlegender Gemeinsamkeiten, zu denen selbstverständlich die gemeinsame Sprache gehört, natürlich auch die Anerkennung von Recht und Gesetz. … Darüber hinaus aber muss es die immer neue Verständigung darüber geben, was uns als Verschiedene miteinander verbindet und verbindlich ist in den Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz, also in den unsere liberale, offene Gesellschaft tragenden Werten und ebenso in den geschichtlich geprägten kulturellen Normen, Erinnerungen, Traditionen.“
In diesem Zusammenhang kritisiert Thierse auch die Bilderstürme unserer Tage: „Die Tilgung von Namen, Denkmalstürze, Denunziation von Geistesgrößen gehören historisch meist zu revolutionären, blutigen Umstürzen. Heute handelt es sich eher um symbolische Befreiungsakte von lastender, lästiger, böser Geschichte. Die subjektive Betroffenheit zählt dabei mehr als der genaue Blick auf die Bedeutungsgeschichte eines Namens, eines Denkmals, einer Person …. Weil mich der Name beleidigt und verletzt, muss er weg, das ist die fatale Handlungsmaxime. Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern. Das darf nicht Sache von Demokratien werden …“
Die derzeit unser Land überrollenden Identitätsbestrebungen sind deshalb kritisch zu sehen. Die sprachliche Wurzel von Identität ist im lateinischen „identitas“ zu finden und meint Wesenseinheit, Gleichheit, Übereinstimmung. Es darf dabei jedoch nicht um Gleichmacherei gehen. In diesem Sinne schrieb Thierse: Es muss „die immer neue Verständigung darüber geben, was uns als Verschiedene miteinander verbindet und verbindlich ist …“ Insofern ist das Wort „identifizieren“ hilfreich, denn darin steckt zusätzlich das Wort „facere“ – zu Deutsch – „tun“. Identität wird also nicht – und sei es mit noch so großem medialem Druck – indoktriniert, sondern entsteht, wächst im Tun. Im positiven Sinne sind Menschen an ihrem Tun zu erkennen, was sie auszeichnet, was ihnen wichtig ist, woraufhin sie leben. – Damit sind wir bei der Botschaft des zweiten Ostersonntags, die uns im Evangelium verkündet wurde!
Es geht um die Identität der Christen, um die geistige Quelle, aus der heraus Christen leben, Kraft schöpfen und handeln. „Acht Tage darauf …“, „am ersten Tag der Woche“, so heißt es. Das war nicht einer von sieben Wochentagen. Sie hielten nicht Wochenende, sondern feierten den neuen Anfang, den Gott schenkt. Das gehörte zu ihrer Identität. Dadurch fielen die Christen auf.
Sie lebten und handelten aus der „Communio“ mit dem Auferstandenen, die sie jeden Sonntag gemeinsam begingen. Deswegen feierten die Christen am ersten der Tag der Woche, am Sonntag, Eucharistie, in der ihnen die Frohe Botschaft als Wegweisung Gottes und seine Nähe im heiligen Mahl geschenkt wurde und wird. Von daher fassten sie immer neuen Mut zum Leben und konnten die Welt um sich herum menschlich und hoffnungsvoll mitgestalten.
Der Sonntag bleibt für uns Wochenanfang, auch wenn der ökonomische Kalender aus ihm das „Wochenende“ gemacht hat. Wir leben von Ostern her! Die Christen versammeln sich an diesem Tag, weil sie sich – ohne Überheblichkeit – von den Menschen abheben, die mit dem Sonntag nichts mehr „am Hut“ haben, weil für sie der Sonntag längst Werktag geworden ist.
In einem Gerichtsprotokoll aus dem 4. Jahrhundert, nachdem die Christen immer wieder wegen ihrer heimlichen Sonntagsversammlungen angezeigt wurden, heißt es:
„Sine dominico, sine domino, sine deo non possumus.“ – „Ohne den Tag des Herrn, den Sonntag, ohne den Herrn, ohne Gott können wir nicht sein, können wir nicht existieren.“ – Wir können nicht sein, wenn wir uns nicht an Gott halten und einander bestärken, so die Aussage.
Justin der Märtyrer schrieb um das Jahr 150: „An dem nach der Sonne benannten Tage findet die Zusammenkunft von allen … an einem gemeinsamen Ort statt. Es werden die Aufzeichnungen der Apostel und die Schriften der Propheten vorgelesen … (und) die Danksagung begangen …“ Sogar unter Gefahr des eigenen Lebens kamen sie zusammen. Ihre Gottesdienste waren zugleich Sendung zum Dienst am Leben.
Weil die Christen aus ihrem Glauben, aus der tiefen Verbindung zu Jesus heraus lebten und handelten, haben sie gegen alle Widerstände der Welt ein menschliches Gesicht gegeben, haben sie z.B. die soziale Kultur des sogenannten Abendlandes geprägt.
Die Apostelgeschichte, wie wir in der Lesung gehört haben, berichtet von der Jerusalemer Urgemeinde, die sich um die Apostel scharte. Wir hören von einem offenbar auffallenden Gemeinschaftsleben, wir hören vom Beten und der Mahlfeier, wir hören von der sozialen Sorge, vom verantwortungsbewussten Umgang mit Besitz. Diese Lebensweise strahlt offensichtlich eine enorme Anziehungskraft aus. Man wird auf die kleine christliche Gruppe in der zum Teil andersgläubigen und auch gottlosen, heidnischen Umwelt aufmerksam. Obwohl die kleine christliche Gemeinde immer wieder verschiedensten Verdächtigungen ausgesetzt und sogar verfolgt wird, werden mehr und mehr Menschen auf sie aufmerksam, mehr und mehr wenden sich ihr zu und finden durch sie zum österlichen Glauben.
Deshalb ist es interessant auf Thomas zu achten. Das heutige Evangelium berichtet, dass er zweifelt: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe, und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ „Die Wunden Jesu, seine bis ans Kreuz praktizierte Haltung grenzenloser Liebe, sind offensichtlich Identitätsmerkmal und haben Überzeugungskraft.“
Dieser Bericht unterstreicht die Linie, die wir im Evangelium schon ausgemacht haben. Der skeptische Zeitgenosse, der Skeptiker in uns selbst fragt immer wieder nach handgreiflichen Beweisen für die Auferstehung. Auf diese Frage gibt es aber heute – wie schon damals – nur eine Antwort: Lass dich auf die Gemeinschaft der Glaubenden ein. Sie ist das einzig sichtbare Zeichen, das die Auferstehung in der Welt zurückgelassen hat.
Unsere Gottesdienste, unser sozialer Dienst, unsere Sorge um das Leben, unser kulturelles Engagement, unsere Freude am Leben und an der guten Schöpfung, unser Einsatz für eine gerechte, versöhnte und deshalb friedvolle Welt, all das sind Erfahrungen, die hinweisen auf das Leben, das Gott schenkt und das der Auferstandene verbürgt.
Wir beklagen heute vielfach eine teilweise sogar schlimme, unmenschliche Geistlosigkeit, wir leiden an der Gottvergessenheit der Welt. Deshalb nehmen wir Christen an jedem Sonntag Maß an der Botschaft Jesu. Dabei geht es um unsere eigene Identität! Dazu gehört wesentlich und entscheidend die Communio mit dem Auferstandenen.
Wolfgang Thierse schrieb in seinem Artikel, dass es „die immer neue Verständigung darüber geben muss, was uns als Verschiedene miteinander verbindet und verbindlich ist in den Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Toleranz, also in den unsere liberale, offene Gesellschaft tragenden Werten und ebenso auch in den geschichtlich geprägten kulturellen Normen, Erinnerungen, Traditionen.“
Es liegt an jedem von uns, an unserer Gemeinschaft als Gemeinde, an unserem Glauben, ob die Botschaft Jesu, sein Auftrag und seine Sendung unsere Identität ausmachen, und ob wir uns damit identifizieren, indem wir den Glauben mit Überzeugung praktizieren, also aufeinander zugehen und einander annehmen so wie wir sind.
Die Communio mit dem Auferstandenen, unser österlicher Glaube auf die Zukunft mit und bei Gott, und von daher unser Dienst am Nächsten aus dem Geist der Frohen Botschaft heraus machen unsere Identität aus – weniger die Struktur-, Organisations- und Verwaltungsbemühungen oder die vordergründige Debatte um Ämter und Macht in der Kirche. Es liegt also an uns, ob die Welt, ob die Menschen um uns herum spüren, dass der Herr lebt, und dass SEINE Frohe Botschaft eine gute und verheißungsvolle Grundlage ist für ein menschenwürdiges und hoffnungsvolles Miteinander in der Welt.
Die Communio mit dem Auferstandenen, unser österlicher Glaube auf die Zukunft mit und bei Gott, und von daher unser Dienst am Nächsten aus dem Geist der Frohen Botschaft heraus machen unsere Identität aus – weniger die Struktur-, Organisations- und Verwaltungsbemühungen oder die vordergründige Debatte um Ämter und Macht in der Kirche. Es liegt also an uns, ob die Welt, ob die Menschen um uns herum spüren, dass der Herr lebt, und dass SEINE Frohe Botschaft eine gute und verheißungsvolle Grundlage ist für ein menschenwürdiges und hoffnungsvolles Miteinander in der Welt.
Für uns Christen ist Identität keine Ideologie, sondern glaubwürdiger Dienst am Heil der Welt! Wie steht es also um unsere Identität als Christen, und wie identifizieren wir uns mit dem Auftrag und der Sendung Jesu, der sagte: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Sonntag – Gottesdienst
Ich will ja nicht als
hören das Wort, das einzige
das mich lebendig macht
das mich befreit, und
um mich sehen Menschen
die daran glauben so wie ich.
Ich will ja nicht als
meine Knie beugen vor
dem Geheimnis des Glaubens,
nichts als ausstrecken
meine Hand und öffnen
meinen Mund und essen das Heil
Ich will ja nichts als
auf mich nehmen das Kreuz
das der Segen uns auferlegt
für sieben neue Tage
und gehen dann, ein
kleiner Friede auf zwei Beinen.
(Lothar Zenetti)