„Es geht uns um die Opfer von sexueller Gewalt“, eröffnete Domkapitular Clemens Bieber für den einladenden Caritasverband den Fachtag „Blicke weiten“. Und weil es um einen erweiterten Blick für die Opfer gehe, müsse es auch um die Täter gehen, fügte Bieber an. Papst Franziskus zeige dies sehr authentisch mit seinen Besuchen bei den Opfern und ebenso in den Gefängnissen bei den Tätern. Hinter diesem Tun stehen die christliche Grundhaltung und der Glaube an einen menschenfreundlichen Gott. Bieber dankte dem Staatsministerium der Justiz für die vertrauensvolle Zusammenarbeit in einem Bereich, der nach wie vor eine gesellschaftliche Herausforderung darstelle.
Für das Ministerium ergriff Ministerialrat Dr. Günther Puhm das Wort. Auch der Justiz gehe es vorrangig um die Entlastung der durch sexuelle Gewalt oft traumatisierten Opfer. Hier gebe es inzwischen eine ganze Reihe neuer Modelle, Angebote und Maßnahmen, damit betroffene Frauen und Männer nicht wieder und wieder ihre belastende Geschichte erzählen und durchleiden müssten. „Dass wir den Blick für die Täter weiten hat einen guten Grund: wir wollen Rückfälle verhindern. Täterarbeit ist aktiver Opferschutz“, so Puhm. Die gute Arbeit in den Fachambulanzen in München, Nürnberg und Würzburg bestätige die Richtigkeit des Ansatzes. Der Zulauf sei groß und die Rückfallquote behandelter Sexualstraftäter erstaunlich gering. Der Ministerialrat dankte dem Leiter der Würzburger Fachambulanz, Klaus Weth, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich für die hervorragende Arbeit und beglückwünschte den Caritasverband, der vor zwei Jahren den Mut hatte, in diese Arbeit einzusteigen. Inzwischen sind der langfristige Betrieb der Einrichtung und eine Erweiterung auf das Feld Gewaltstraftäter beschlossen worden. „Niemand kann dafür garantieren, dass es nicht doch Rückfälle gibt“, gab Puhm zu bedenken „und doch bleibt die Therapie der beste Opferschutz.“
Was ist ein Trauma? Wie findet es seinen Widerhall im Menschen? Und wie wird seitens der Therapeuten versucht, die verlorene Einheit (Dissoziation) wieder herzustellen? Mit diesen und weiteren Fragen befasste sich der Fachvortrag von Winja Lutz. „Wo Gefahr für Leib oder Seele drohen, stellen wir uns dem Kampf oder ergreifen die Flucht. Wird die Lage aussichtlos, kann es zum Trauma kommen.“ Lutz erklärte diese Zusammenhänge sehr eindrücklich am Fall wiederholten sexuellen Missbrauchs in der Familie. Kinder haben keine Chance, sie können weder kämpfen noch fliehen, sondern sind ausgeliefert. Ist der Täter zugleich auch der, der sich nach dem Missbrauch seinem Opfer liebevoll und tröstend zuwendet und es gleichsam befreit, wird ein Teufelskreis geschlossen. „Das Kind kann nicht anders, als sich mehr und mehr an den Täter binden“, erklärte Lutz die komplexe Entstehung eines Traumas, bei dem das Kind Anteile des Täters in die eigene Persönlichkeit übernehme (Introjektion). Lutz, Mitarbeiterin am Leipziger Traumainstitut, stellte anschaulich eine ganze Palette von Therapieansätze vor, die es dem Opfer erst einmal ermöglichen, die eigenen Gefühle (Emotionen) anschaulich zu machen und ins Wort zu bringen, denn „im Kern ist jedes Trauma stumm.“
„Wo spüren sie ihre Wut?“ Klaus Weth, Leiter der Psychotherapeutischen Fachambulanz für Sexualstraftäter verließ das Podium und suchte immer wieder den unmittelbaren Kontakt zum interessierten Publikum. An den Beginn seines Berichtes über die Arbeit der Psychotherapeutischen Fachambulanz für Sexualstraftäter der Caritas in Würzburg stellte Weth den Dank an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an die Behörden, die Polizei und nicht zuletzt an das Staatsministerium in München für das gedeihliche Miteinander. „Unser Alltagsgeschäft ist es, Gefährlichkeiten einzuschätzen mit dem Ziel, Rückfälle zu verhindern“, führte Weth aus. Er lobte ausdrücklich das lückenlose Übergangsmanagement zwischen JVA und Fachambulanz. Dass sei keine Selbstverständlichkeit. Auf die Frage, ob ein Täter überhaupt verstehen könne, was er da seinem Opfer angetan habe, erklärte der erfahrene Forensiker, dass sich Sexualstraftäter ihrer eigenen emotionalen Konfusion gar nicht bewusst seien. „Wo spüren sie ihre Wut, ihre Traurigkeit und Leere“, so Weth, “ist eine ganz typische Frage in unserer therapeutischen Arbeit. Wir sprechen offen über das Leben des Täters, über Beziehungsmuster, über Sexualität und über die zurückliegende Straftat.“ Ziel ist die Emotionsregulation und Stabilisierung, um weitere schwere Straftaten möglichst zu verhindern. Auch wenn es Gemeinsamkeiten gibt, machte Weths Beitrag deutlich, dass jede Straftat und jeder Straftäter eine eigene Geschichte haben. Viele waren in Kindheit und Jugend selbst Opfer sexueller Gewalt und würden dann nach einem Opfer suchen, in dem sie sich widerfinden könnten. Auch dank der Therapie würden viele Täter ihr Leben in den Griff bekommen. Für Würzburg sind bislang keine schweren Rückfälle zu beklagen.
Bettina Böhm stellte in ihrem Vortrag ein internationales E-Learning-Projekt der päpstlichen Universität Gregoriana vor, das sich gerade in der Testphase befindet. Ausgangpunkt waren die zahlreichen Berichte über sexuellen Missbrauch in Einrichtungen der katholischen Kirche in den USA, Irland und Deutschland. „Es ist leichter, Strukturen zu ändern als Personen“, gab die Wissenschaftliche Mitarbeiterin eine Erkenntnis der Analyse des Ist-Zustandes weiter. Mit dem Online-Kurs richte man sich an potentielle Multiplikatoren in Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und Europas, die man für die Thematik sensibilisieren wolle. Das etwa 30 Stunden umfassende Programm basiere auf typischen Beispielgeschichten sexuellen Missbrauchs und will den Lernenden zeigen, wie Symptome von Missbrauch erkannt und wie mit kritischen Situationen in kirchlichen Einrichtungen umzugehen sei. „Wir nehmen auch auf länderspezifische Rechtsvorschriften Bezug“, sagte Böhm und stellte klar, dass das Strafrecht einen Vorrang vor kirchenrechtlichen Optionen habe. Die Testphase, zu der auch das Angebot regionaler Treffen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehörten, endet 2015. Dann können auch Institutionen das Programm nutzen.
Die theologisch-ethische Dimension entfaltete Dr. Andreas Zimmer unter dem Titel „Schuld und Sühne“. Zimmer ist Missbrauchsbeauftragter im Bistum Trier und betreute die zentrale Hotline der katholischen Kirche. „Ich habe gewaltigen Respekt vor dem Thema“, gab Zimmer zu und entwarf im Anschluss ein Koordinatensystem, in dem nicht fertige Antworten, sondern Fragen zu verorten waren. „Wir haben alle, ob nun bewusst oder vorbewusst unser Gottesbild“, sagte der Theologe und stellte dem Gottvater der Griechen den leidenden Gott der Christen gegenüber. Zeus ist der Inbegriff eines Sexualstraftäters, während sich Gott in Jesus Christus selbst als Opfer hingebe. „Aber wer identifiziert sich mit dem leidenden Gott?“ Könne man den leidenden Gott als Heilmittel anbieten? fragte Zimmer. Ähnlich wie „Gott“, sei auch der Begriff „Ethik“ einer der großen und oft unklaren in der Diskussion. Zimmer betonte jedoch nicht deren normativen Inhalt, sondern die Übersetzung als Brauch und Sitte. „Wir müssen uns fragen lassen, wie es um unsere Kultur steht“, mahnte der Fachmann und verwies auf die Fülle sexualisierter und sexualisierender Werbung. Auch „Schuld“ sei eines der zentralen Worte. Aber wie stehe es um einen Täter, der selbst Opfer war? Wie stehe es um einen minderjährigen Täter? Was ist das Böse, dass jemand tue? „Die Schuld der Täter besteht darin, dass sie ihren Opfern Lebensmöglichkeiten nehmen.“ Aber mit Thomas von Aquin lasse sich die christliche Hoffnung dadurch erfassen, dass das Böse kein eigenes Sein habe. „Es ist nie vollständig und endgültig.“
Die abschließende Podiumsdiskussion wurde engagiert geführt. Zu den vier Referenten gesellte sich Elisabeth Kirchner vom Verein Wildwasser Würzburg e. V. Auch das Publikum nutze die Gelegenheit, um weitere Fragen und Anmerkungen loszuwerden. Elisabeth Kirchner kritisierte die Kirche von Würzburg für das vergleichsweise geringe (finanzielle) Engagement. Das konnte Klaus Weth so nicht stehen lassen „Auch wir als Fachambulanz der Caritas verstehen uns und unsere Arbeit als Kirche.“ Ebenso verwies Sr. Dagmar Fasel als Präventionsbeauftragte des Bistums auf das umfassende Engagement der Kirche. Einig war man sich auf dem Podium darüber, dass seit Jahren viele gute Programme entwickelt, aber viel zu wenige davon umgesetzt wurden. Nach wie vor sei es schwer, einen Traumatherapeuten zu finden, unterstrich Winja Lutz „und dann muss man oft Monate oder sogar Jahre auf einen Termin warten.“ Nach wie vor fehlten qualifizierte Anlaufstellen für Männer, die Opfer sexueller Gewalt wurden und es fehlten Stellen für Männer, die Angst haben, selbst Täter zu werden. „Wenn jemand akut befürchtet, dass er zum Täter werden könne, werden wir ihn nicht zurückweisen und ein Erstgespräch führen“, sicherte Weth zu.
Der Fachtag im Matthias-Ehrenfried-Haus hat durch sein facetten- und abwechslungsreiches Angebot an Vorträgen und Diskussionen die Blicke der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zweifellos geweitet. „Da werde ich dranbleiben“, war immer wieder zu vernehmen. Und wenn es auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Gesellschaft eine Sensibilisierung für das Thema braucht, so hat dieser Fachtag seinen Beitrag dazu geleistet.
Präsentation zum Vortrag von Klaus Weth.
Präsentation zum Vortrag von Winja Lutz.
Präsentation zum Vortrag von Bettina Böhm.
Präsentation zum Vortrag von Dr. Andreas Zimmer.