Die Predigt im Wortlaut:
„Beten für den Krieg“ – so lautete die Überschrift zu einem Kommentar in der aktuellen Ausgabe von „Christ in der Gegenwart“. Seit den Aktionen bei den Fußball-Länderspielen gegen Albanien und Frankreich, wo fast alle türkische Nationalspieler mit Militärgruß Richtung Tribüne salutierten, ist die Öffentlichkeit in der freien Welt sensibilisiert und registriert mit Erschrecken, dass in verschiedenen Ligen bis zu Schülermannschaften die Solidaritätsbekundung für die eigenen Soldaten im Krieg in Syrien bewusst praktiziert wird.
Ebenso wird in nicht wenigen Moscheegemeinden auch in Deutschland der Krieg Erdoğans gegen die Kurden in Nordsyrien mit Gebeten begleitet wie z.B. „O Allah, führe unsere glorreiche Armee zum Sieg“. Davon berichten die Medien quer durchs ganze Land.
Wir sind uns einig, dass in diesem Fall das Gebet, ja Gott selbst – wie immer er in der jeweiligen Religion genannt wird – missbraucht und für eigene Machtzwecke instrumentalisiert wird.
Dagegen werden bei uns immer wieder Forderungen in der gesellschaftliche Debatte aufflammen wie z.B. das Entfernen von Kreuzen aus Klassenzimmern, Gerichtssälen und Amtsstuben, oder dass Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach mehr sein soll, dass die Einsegnung von öffentlichen Gebäuden unterbleiben müsse ebenso wie die Eidesformel mit Bezug auf Gott. Die Militärseelsorge sei abzuschaffen, Zuschüsse für die Kirche sollen eingestellt werden, die Gewährung von Sendezeiten für sogenannte Verkündigungssendungen wie z.B. Gottesdienstübertragungen solle beendet und die Kirchenredaktionen in den Fernsehanstalten aufgelöst werden. Und schließlich solle der Straftatbestand der Gotteslästerung (§ 166 StGB) aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden.
Die seit Jahren wiederholten Forderungen zeigen Wirkung. In der vergangenen Woche wurde die neue Shell-Jugendstudie vorgestellt. Diese zeigt auf, dass Jugendliche in Deutschland immer weniger an Gott glauben und mindestens einmal pro Woche beten. Die Studie sagt, dass von 2002 bis 2019 der Anteil derjenigen unter katholischen Jugendlichen, die an Gott glauben, von 51 auf 39 Prozent abgenommen hat. Bei evangelischen Jugendlichen sank der Wert im selben Zeitraum von 38 auf 24 Prozent. Im Gegensatz dazu wächst der Gottglaube vor allem unter jungen Muslimen in Deutschland weiter an: Im Jahr 2019 stuften 73 Prozent der befragten Muslime den Glauben an Gott als wichtig ein, nur 18 Prozent bezeichneten ihn als unwichtig. Auch für Jugendliche anderer Religionen gilt laut den Ergebnissen der Studie, dass sie „glaubensfester“ sind als ihre evangelischen und katholischen Altersgenossen.
Die Forscher erklären sich die stärkere Religiosität bei Jugendlichen, die nicht evangelisch oder katholisch sind, unter anderem mit der religiösen Prägung durch das Elternhaus. So hätten bei der Befragung 64 Prozent der muslimischen Jugendlichen angegeben, aus einem ziemlich oder sehr religiösen Elternhaus zu stammen. Bei katholischen Jugendlichen war der Wert 38 Prozent und bei evangelischen Jugendlichen mit 19 Prozent deutlich geringer. Die Forscher vermuten, dass das religiös geprägte Familienumfeld insbesondere muslimischen Jugendlichen ein festes Glaubensfundament gibt und dazu führt, dass der Glaube an Gott in dieser Gruppe nicht an Bedeutung verliert, im Gegenteil sogar zunimmt.
Es geht nicht nur darum, dass der Glaube das Leben prägt, sondern WIE er es prägt. Es wäre fatal, Gott zu benutzen für den eigenen Vorteil oder die eigene Ideologie. Es geht vielmehr um das Vertrauen, dass ich von Gott gehalten und getragen werde, auch dann wenn ich in Gefahr bin. Insofern ist das Gleichnis, das Jesus im heutigen Evangelium verwendet, sehr interessant.
Es geht um eine Frau, die niemanden hat, der sie schützt: Weil sie keinen mehr Mann hatte, war sie damals rechtlos. Der Prozessgegner, ein offenbar wohlhabender Mann, ist nicht bereit, der Witwe das ihr zustehende Geld auszuzahlen. Der Richter hat absolut kein Interesse, der Frau zu ihrem Recht zu verhelfen. Sie ist scheinbar ohne jede Chance. Doch sie gibt nicht auf und kämpft um ihr Eigentum. Aus dem Selbstgespräch des Richters wird schließlich klar, dass ihn nicht das Recht der Witwe interessiert, sondern die Angst, von ihr in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht zu werden.
Doch Jesus geht es nicht um materielle oder finanzielle Angelegenheiten, es geht ihm um das Vertrauen ins Leben, das Menschen in frohen und schweren Tagen trägt und hält. Deswegen will er auf den eigentlichen Halt für unser Leben, nämlich auf Gott, hinweisen.
Das wird deutlich in seiner Aussage: Wenn schon der gottlose Richter der schutzlosen Witwe zu ihrem Recht verhilft, dann wird Gott umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die Tag und Nacht zu ihm schreien. – Es geht also um das inständige Beten im Vertrauen in Gott.
Wie viele Menschen haben aber eine sehr verkürzte Vorstellung vom Gebet, ja von Gott selbst. Der Blick durch die Fürbittbücher an vielen Wallfahrtsorten zeigt es. Wie oft ist der momentane Kontakt zu Gott reduziert auf ein sehr konkretes Anliegen. Das kann eine materielle Sorge, ein berufliches Problem, eine Krise in der Partnerschaft, eine Not mit Kindern und Angehörigen oder eine schlimme Erkrankung sein.
In einer solchen Situation wird nicht selten der Himmel regelrecht bestürmt. Dahinter verbirgt sich im Grunde eine sehr einseitige Vorstellung von Gott und seiner Hilfe: Ich bete, ich opfere eine Kerze, ich mache ein Versprechen, dafür erwarte ich …
Es ist nichts gegen eine Kerze oder ein anderes deutliches Zeichen der Verbundenheit mit Gott einzuwenden. Die Hinwendung darf sich aber nicht auf äußere Zeichen beschränken, und schon gar nicht auf einen damit beabsichtigten Handel mit Gott.
Ein tiefes, herzliches, sehr persönliches Gebet ist viel mehr, es ist Ausdruck größten Vertrauens in Gott. Im Gebet übersteigen wir den Augenblick und unsere Begrenztheit. Im Gebet weitet sich unser Gesichtskreis, wir stellen unser Leben in den größeren Horizont Gottes. Im Gebet kommen wir mitten in den Turbulenzen unseres Lebens in Berührung mit dem innersten Raum unserer Seele, in dem Gott wohnt. In diesem Raum hat kein Mensch Macht über uns. Da bin ich ganz ich selbst. Dort schöpfe ich Kraft und Zuversicht.
Im Gebet erscheint unser Leben in einem anderen Licht. Anselm Grün drückt es so aus: „Es geht um die heilende und befreiende Wirkung des Gebetes. Beten heißt, sich selbst nicht aufgeben, mit dem eigenen Glanz in Berührung kommen, den Raum der Freiheit und der Liebe in sich erfahren, Gott selbst in sich erfahren, der uns Recht verschafft auf das, was wir zum Leben brauchen, auf das, was unseren eigentlichen Wert ausmacht.“
Der anerkannte Tübinger Religionspädagoge Albert Biesinger hat ein sehr bedeutsames Buch geschrieben mit dem Titel: „Kinder nicht um Gott betrügen.“ Die Botschaft seines Buches deckt sich mit den Erkenntnissen von Hirnforschern – nicht Theologen –, die festgestellt haben, dass Religion, Vertrauen in Gott, eine von drei Grundbedingungen ist, die Kindern zu einem psychisch stabilen Leben verhelfen.
Auch im Blick auf das Zusammenleben der Menschen geht es wie in all den vielen Herausforderungen, Problemen und Belastungen unserer Gesellschaft darum, in Gott DEN zu erkennen, der uns den besten Weg für unser Leben und das Miteinander zeigt, und dass alle darum beten, Gott möge helfen, den richtigen, gerechten und guten Weg zu finden und zu gehen, damit alle neue Hoffnung und Zuversicht schöpfen und menschenwürdig und in Frieden leben und zusammenleben können.
Schließlich ein letzter Gedanke, der in der Lesung aus dem Buch Exodus deutlich wird. „Solange Mose seine Hand erhoben hielt …“ – Mose betet für sein Volk. Deshalb möchte ich kurz noch das stellvertretende Gebet ansprechen.
Leider gibt es immer mehr Menschen, die es verlernt bzw. nie erfahren haben, sich Gott zuzuwenden, die deshalb auch nie gespürt haben, dass sie in IHM geborgen sind, und dass sie im Vertrauen auf IHN Hoffnung haben dürfen und die Hilfe finden, die sie wirklich zum Leben brauchen. Gerade für solche Menschen, wie auch für unsere zunehmend säkulare Gesellschaft, müssen wir beten, damit die ganze Welt einer guten Zukunft entgegengeht.
Der Soziologe, Historiker und Philosoph Wolf Lepenies sagte im Blick auf die vielen Spannungen, die ökonomischen und sozialen Probleme weltweit: „Der Prozess der Säkularisierung misslingt. Der soziale Kitt ist verschwunden. Einer Welt, die sich lange Zeit ihrer Gottlosigkeit rühmte, sind jetzt auch noch die weltlichen Gewissheiten abhandengekommen.“
Als Christen beten wir für die Welt, in der wir leben, und für die Menschen, die uns am Herzen liegen, und wir beten auch in unseren eigenen Anliegen. Wir beten für das Leben und um die Kraft, auf Versöhnung und Frieden hinzuwirken. Wenn wir Gott im Blick haben, dann kann es nicht darum gehen, für Krieg zu beten. Wenn wir beten, dann trägt uns die Zusage Jesu, dass Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, zu ihrem Recht verhelfen wird. Es geht also um den Glauben und das Vertrauen in Gott und von daher um das Vertrauen aller Menschen ins Leben. Darum sollten wir immer und immer wieder beten – gerade jetzt angesichts der vielen Spannungen und Konflikte in aller Welt.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Mechthild von Magdeburg hat im 13. Jahrhundert folgende Einsicht festgehalten:
Das Gebet hat große Kraft:
es macht ein bitteres Herz süß,
ein betrübtes Herz froh,
ein armes Herz weise,
ein mutloses Herz kühn,
ein schwaches Herz sehend,
ein kaltes Herz warm.
Es zieht den großen Gott in das kleine Herz.
Es treibt die hungrige Seele zur Fülle Gottes.
Es bringt zusammen zwei Liebende
– Gott und Mensch