Die Predigt im Wortlaut:

Das Bild ging um die ganze Erde: Am 7. November ist Papst Franziskus während der großen Audienz auf dem Petersplatz auf einen Mann zugegangen, der völlig entstellt ist. Sein Kopf und sein Gesicht sind dicht übersät von Tumoren. Der Papst hat den Mann umarmt, zärtlich seinen Kopf zwischen seine Hände genommen, küsste die entstellenden Geschwülste. Die WELT schrieb: „Die warmherzige Geste geht zu Herzen!“
Weiter hieß es in dem Artikel: „Die Größe des Herzens von Papst Franziskus kennt keine Grenzen, könnte man glauben. Bei seiner Generalaudienz … zeigte er erneut, was Nächstenliebe und Barmherzigkeit, Güte und Mut bedeuten.
50 000 Gläubige waren anwesend, als das Oberhaupt der katholischen Kirche auf einen schwerkranken Mann zuging, vor dem die meisten Leute erst einmal zurückschrecken würden … Nein, mit dieser Geste konnte der Stellvertreter Gottes auf Erden den Mann gewiss nicht von seiner schweren Krankheit, Neurofibromatose, heilen. Die körperlichen Schmerzen, die mit ihr einhergehen, waren sicher auch nicht verschwunden. Doch das Herz des etwa 45-Jährigen dürfte eine kleine Stärkung erfahren haben. Es muss tief empfundene Dankbarkeit gewesen sein, die die Berührung des Pontifex ausgelöst hat. Denn auf einmal ließ der von unzähligen Nerventumoren Entstellte seinen Tränen freien Lauf.“

Einen Tag zuvor, am 6. November, las ich in der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift „Wir optimieren uns zu Tode“ einen Bericht, in dem es heißt: „Die Biotechnik jagt hinter dem perfekten Menschen her.“ Darin werden verschiedene Forschungen vorgestellt, die alle auf zunehmend größere Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen. Da geht es z.B. in England um den Versuch, ein Kind mit Hilfe des Drei-Eltern-Prinzips zu zeugen, um dadurch die Vererbung einer tödlichen Krankheit zu verhindern.
Und in Kalifornien bietet eine Gentestfirma für 99 Dollar eine Erbgutanalyse an, die anhand der genetischen Daten der Eltern die Wahrscheinlichkeit von körperlichen Eigenschaften ihres Kindes berechnet. In dem Fragebogen steht unter anderem: „Ich bevorzuge ein Kind mit einem geringen Risiko für …“. Dann folgt eine Liste von Ankreuzmöglichkeiten für eine Vielzahl von Krankheiten.
Und schließlich wurde in dem Artikel von einem Kind berichtet, das am 18. Mai d.J. in Philadelphia zur Welt kam. Es ist das erste Baby, dessen Erbgut in einer Sequenziermaschine decodiert worden ist, bevor der Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt wurde. Es existiert ein Foto von dem kleinen Jungen, da ist er einige Wochen alt und trägt einen blauen Pullover mit der Aufschrift: „Made with Love“, Mit Liebe gemacht!

Zwei völlig verschiedene Grundhaltungen: Hier Papst Franziskus, der einen Schwerkranken zärtlich berührt, seine Wunden küsst und ihn segnet, dort der Versuch, für nahezu perfektes Leben zu sorgen und dieses Tun als „Liebe“ bezeichnet.

Damit sind wir mitten im Geschehen der Heiligen Nacht!

Wir erleben in dieser Nacht Menschen, die rastlos und gehetzt sind von der Betriebsamkeit des Alltags, die z.T. mit Härte Geschäfte machen müssen. Wir erleben Menschen, die oft wie abgestumpft scheinen für die Befindlichkeit anderer, die keine Zeit füreinander haben, ruhelos sind, Menschen, die fast immer eine Möglichkeit finden, sich andere und ihre Not vom Leib zu halten, wir erleben Menschen, die selten einfühlsame Worte für andere haben, die nicht zuhören können, die nur Zahlen, Fakten, Gewinn und Vorteil im Blick haben.
Viele von ihnen stehen an diesem Abend, in dieser Nacht vor der Krippe, sind zutiefst gerührt, ja in ihrem Innersten berührt und es fließen Tränen, wenn sie von dem Wunder dieser Nacht singen oder einander in die Arme schließen, einem Kind zuschauen, das sich riesig freut, oder wenn sie das dankbare Strahlen in den Augen eines alten und gebrechlichen Menschen wahrnehmen.

In solchen Momenten wird deutlich, in der Heiligen Nacht geht es um weit mehr als um eine vordergründige oder oberflächliche Sentimentalität, da geht es nicht um eine Perfektionierung menschlichen Lebens. In der Heiligen Nacht wird unser Herz berührt, wie es von Menschen nicht machbar wäre.

Menschen fühlen sich angenommen, wertgeschätzt und geborgen trotz all ihrer Fehler und Schwächen, auch mit all ihrer Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit und Unvollkommenheit. Das Wunder dieser Nacht liegt nicht in der Perfektion oder einer Inszenierung, sondern in der Schwäche, die zutiefst menschlich ist.

Die Rahmenbedingungen für die Geburt Jesu waren alles andere als perfekt. Bei Maria und Josef schwingt unvorstellbar viel Unsicherheit mit. In ihrer Umgebung erfahren sie Ablehnung und landen am Rande, draußen vor der Stadt. Die ersten Kontakte sind Menschen, die nicht zur vornehmen Gesellschaft gehören. Aber gerade ihnen geht das Herz auf, und sie ahnen, dass mit dem Kind in der Krippe Licht in das Dunkel der Welt kommt, dass sich die große Erwartung der Menschheit erfüllt, wie sie der Prophet Jesaja beschreibt. Im Blick auf die Menschwerdung Gottes schreibt der Apostel Paulus an Titus: „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“

Gott kam in Jesus selbst in die Welt, um allen Menschen zu einem erfüllten und zufriedenen Leben zu verhelfen,

• indem ER den Mächtigen wie auch den Wohlhabenden den Blick weitet für eine tiefere Einsicht, was Leben bedeutet,
• indem ER Niedergedrückte, Mutlose und Enttäuschte aufrichtet,
• indem ER Schwachen, Gebrechlichen und Kranken heilsame Nähe schenkt,
• indem ER Schuldiggewordenen verzeiht und zu einem neuen Anfang verhilft,
• indem ER Hoffnungslosen das Herz weitet und Zuversicht bestärkt.

Das alles ist zutiefst wertvoll für unser Leben und kann in keinem Labor gezeugt werden, sondern nur aus einem Herzen kommen, das von Gottes Liebe berührt ist.

Die WELT schrieb, als sie von dem Ereignis auf dem Petersplatz berichtete: Franziskus konnte den Mann „…gewiss nicht von seiner schweren Krankheit … heilen. Die körperlichen Schmerzen, die mit ihr einhergehen, waren sicher auch nicht verschwunden. Doch das Herz des etwa 45-Jährigen dürfte eine kleine Stärkung erfahren haben. Es muss tief empfundene Dankbarkeit gewesen sein, die die Berührung des Pontifex ausgelöst hat. Denn auf einmal ließ der von unzähligen Nerventumoren Entstellte seinen Tränen freien Lauf.“

Die Tränen dieser Nacht sind Zeichen, dass Menschen in ihrem Herzen berührt wurden, nicht weil die gekauften Geschenke so toll waren, sondern weil sie Gottes Nähe spüren durften, die sie in all den perfekt scheinenden, von Menschen gemachten Äußerlichkeiten nicht finden werden.

Am vergangenen Samstag hörte ich im Radio die Frage an Kinder, was sie sich von der neuen Bundesregierung erwarten oder was diese tun solle. Ein kleines Kind war zu hören: „Ich möchte die neue Regierung fragen, warum so wenige Kinder bei uns auf die Welt kommen.“
Die Antwort auf die gestellte Frage kann die Regierung nicht geben. Die Entscheidung gegen Kinder, die in unserem Land in den vergangenen Jahrzehnten millionenfach getroffen wurde, hat meines Erachtens in erster Linie damit zu tun, dass nicht wenige in unserer Gesellschaft Sorge haben, zu viel Zeit aufbringen zu müssen, um Kinder zu begleiten, und manche befürchten, das Kind könne den eigenen Vorstellungen und Erwartungen nicht entsprechen, nicht gesund bzw. nicht perfekt sein. Ganz sicher erleben Eltern immer wieder, dass Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf als Kostenfaktoren erachtet werden und ihre Familie nicht ausreichend Hilfe und Unterstützung erfährt.

Dennoch ist für mich unverständlich, dass – wie ich gestern im Radio hörte – in Spanien derzeit gegen eine geplante Veränderung der gesetzlichen Regelung protestiert wird, nach der künftig Abtreibungen nur ins wenigen Ausnahmefällen erlaubt sein sollen. Mitten in den Vorbereitungen auf das Fest der Geburt Jesu empören sich Protestierende lauthals mit dem Argument, dass Spanien dann das einzige Land sei, in dem Frauen Kinder möglicherweise mit Behinderungen zur Welt zu bringen müssten.

Gerade das Geschehen der Heiligen Nacht macht aber deutlich, dass uns in einem Kind unverhofft neues Leben, ja sogar Gott selbst nahekommt. Dazu „Ja“ sagen kann nur der, der mit Gott rechnet und auf IHN vertraut, gerade auch dort, wo es eine Zumutung zu sein scheint.
Ein Mensch wie Papst Franziskus bewirkt deshalb mit einem Zeichen wie am 7. November auf dem Petersplatz mehr für ein besseres, menschenwürdigeres Leben als die Biotechniker, die perfektes Leben konstruieren wollen, wie der erwähnte Artikel vom 6. November berichtete. Nicht das im Labor gecheckte Kind ist „mit Liebe gemacht“, vielmehr entspringt die Wertschätzung des Papstes für alles Leben einer unendlichen, in Gott verwurzelten Liebe.

Weihnachten, die Menschwerdung Gottes in Jesus, ist – wie dieser Tage zu lesen war – der „Inbegriff des Neuanfangs“. Wenn die Botschaft des Festes, wenn das Berührtsein im Herzen dazu bewegen, mit neuer Zuversicht das Leben anzunehmen, dann ist eine Geste wie die von Papst Franziskus auf dem Petersplatz am 7. November keine Ausnahme, sondern sie wird zur Normalität im Umgang miteinander – ob gesund oder krank. Dann wird die Welt menschlicher und hoffnungsvoller.

Die WELT schrieb über Franziskus: „Er ist ein Papst, der mit seinen Gesten und seinem Glauben eine Atmosphäre der Gänsehaut erzeugen kann.“ Ja, es ist in der Tat anrührend, wie der Papst den schwerkranken Mann berührte, wie viel mehr ist es ergreifend, wenn Gott uns trotz all unserer Fehler und Schwächen mit SEINER Liebe berührt. Es geht um mehr als Gänsehaut, es geht um das Berührtsein von Gottes Heil.

Deshalb sollten wir Christen in der Heiligen Nacht uns und allen, die uns begegnen, ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest zurufen, denn von dem heilbringenden Geschehen in dieser Nacht geht Leben aus für alle Welt.

Gesegnete, gnadenreiche Weihnachten einer jeden und einem jeden von Ihnen!

Nach der Kommunion zur Besinnung

Wenn du dich satt gesehen hast
an dem Kind in der Krippe,
geh nicht fort.

Schau auch auf die,
die er um sich versammelt hat.

Bevor du gehst,
mach erst wieder
seine Augen zu deinen Augen,
seine Ohren zu deinen Ohren
und seinen Mund zu deinem Mund.

Mach seine Hände zu deinen Händen,
sein Lächeln zu deinem Lächeln
und seinen Gruß zu deinem Gruß.

Dann erkennst du in jedem Menschen
deinen Bruder, deine Schwester.

Wenn du ihre Tränen trocknest
und ihre Freude teilst,
dann ist Gottes Sohn wahrhaftig geboren.

Du darfst dich freuen,
alle Menschen können sich freuen,
können leben –
in dieser Nacht
und für immer.