Die Ansprache im Wortlaut:
Meine Freude an der Mitgliedschaft im Hubertusverein hat ihren Grund in der Erfahrung und der Prägung, die ich von Kindesbeinen an – insbesondere – in meiner Heimatgemeinde machen durfte. Das dichte soziale Netz verband die Menschen miteinander. Sie kannten sich und interessierten sich füreinander. Solidarität und Nachbarschaftshilfe waren selbstverständlich. Die zum Teil – meines Erachtens gesunde – Konkurrenz zwischen einzelnen Ortsvereinen ergab ein lebendiges Ortsleben. All das entfaltete sich um die Kirche herum.
Nun kennen wir alle die Veränderungen der zurückliegenden Jahrzehnte mit ihren nicht immer positiven Auswirkungen. Wir wissen um den Einfluss der Medien. Die Menschen sind eher auf Displays und Bildschirme konzentriert als auf eine Runde Diskutierender an einem Stammtisch. Trotz weniger Wochenarbeitszeit, mehr Freizeit, mehr Urlaubstage ist ständig zu hören: „Ich habe keine Zeit!“ Die Zeit für ein Engagement in einem Verein, einem Gremium wie einem politischen Gemeinderat oder einem Pfarrgemeinderat ist immer weniger vorhanden, ebenso wenn es um ein Mithelfen bei einer Aktion geht – wie z.B. einem Fest.
Sonn- und Feiertage haben früher die Menschen zusammengeführt: Der gemeinsame Gottesdienst, der Frühschoppen oder ein Fest, schließlich die familiären Unternehmungen – all das wird in Frage gestellt, soll Platz schaffen für ökonomische, wirtschaftliche Bedarfe. Die Impulse, die ein Teil der Bevölkerung etwa vom Sonntagsgottesdienst mitgenommen hat in die Werktage werden längst ersetzt durch Talkshows, in denen uns die Welt erklärt wird.
In vielen Lebensbereichen macht sich die wachsende Distanz zum Gemeinwesen bemerkbar. Mit der Individualisierung gehen die Vereinzelung und die Anonymisierung einher. Gleichzeitig stellen wir eine massive Zunahme beim Bedarf an Beratungsdiensten fest – von der Telefonseelsorge über Lebensberatung, psychosoziale Beratungsdienste, Erziehungsberatung, Suchtberatung, Schuldnerberatung bis hin zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender. Viele der vorhandenen Problemen konnten früher – bis zu einem gewissen Maß – vom familiären bzw. dem unmittelbaren sozialen Umfeld aufgefangen werden. Heute quillen die Wartezimmer der Beratungsdienste wie auch der Psychologenpraxen über.
Es werden große Aktionswochen gegen die Einsamkeit initiiert. Alle diese Bemühungen sind richtig und wichtig, aber sie sind eigentlich ein Beleg für die soziale Verarmung in unserer Gesellschaft, der allerdings eine geistige Verarmung vorausging.
Die Zunahme von gewalttätigen Auseinandersetzungen – von Nachbarschaftskonflikten über aggressives Verhalten im Straßenverkehr, aber auch unter Ehepartnern, in Familien und selbst unter Kindern – nimmt ein erschreckendes Ausmaß an. Gewalt gab es immer, aber die Hemmschwelle sinkt weiter. Ein innerer Sensor, was geht und was eben nicht mehr geht, ist vielfach verloren gegangen.
Eine Lebensweisheit, wie sie den meisten von uns von Klein auf nahegebracht wurde, wie z.B. den Satz „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu!“ galt plötzlich als religiös verbrämt. Es schien nicht mehr geeignet, so etwas Kindern zu vermitteln. Die Reflexion über sich selbst, das Nachdenken und dann sogar das Loswerden dessen, was mich bedrückt, wo ich eingesehen habe, dass es falsch war, gilt als altmodisch. Ein Unschuldswahn hat sich ausgebreitet verbunden mit der inneren Haltung: Fehler machen allenfalls andere, ich nicht.
Unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben und daraus resultierende Haltungen haben entscheidenden Einfluss genommen und unser Leben wie auch das Zusammenleben verändert. Auch das Menschenbild hat sich zunehmend mehr gewandelt – vielfach mit Verlust der Menschlichkeit, wenn wir an die rapide gesunkene Zahl an Geburten denken bis hin zur Akzeptanz für aktive Sterbehilfe. – Wohin führt diese Entwicklung?
Es ist nicht damit getan, die Situation zu beklagen. Es braucht eine Perspektive. Dabei kann uns die Heilige Schrift helfen. Im Buch des Propheten Jeremia in Kapitel 29 findet sich der berühmte Brief des Propheten an das Volk, das sich in der Verbannung befand – fern der Heimat, fern der vertrauten Lebensgewohnheiten, in jeglicher Hinsicht in der Fremde. Jeremia spricht das Verhältnis der Gläubigen zu ihrem Verbannungsort an, in dem sie nun lebten. Der Prophet kommt zu dem Appell: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt!“
Nebukadnezar hatte Jerusalem erobert, die Stadt geplündert und zerstört. Vorausgegangen war eine stark verfehlte, von den Propheten immer wieder kritisierte Politik, die zum Niedergang führte. Die Elite des Volkes, ebenso Handwerker und Bauleute hatte er nach Babel verschleppt.
Sie saßen an den Flüssen Babels und weinten, wie es im Buch der Psalmen heißt. Sie waren Fremde, entwurzelt. Zur Hoffnung, bald heimkehren zu dürfen, gab es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anlass. In dieser Ausweglosigkeit empfiehlt Jeremia: Lebt aufrecht! Traut eurer Hoffnung! Vertraut Gott! Und haltet durch – obwohl, wie uns in die Geschichte lehrt, es noch 70 Jahre dauern sollte bis zur Rückkehr. Umso bedeutsamer ist die Aufforderung des Propheten: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt!“ Bringt euch ein, arbeitet mit, „denn wenn es der Stadt gut geht, dann geht es euch auch gut“. Und vor allem, gebt dadurch Zeugnis von eurem Gott und somit von eurem Vertrauen ins Leben, von eurem Vertrauen in die Zukunft, die durch und mit Gott möglich wird!
„Bemüht euch um das Wohl der Stadt!“ Meines Erachtens ist das auch für uns als Christen in unseren Tagen der Weg, um unserer Gesellschaft zu einem lebenswerten Miteinander zu verhelfen. Das erfordert, dass wir uns einbringen in unsere Dörfer und Städte mit der Bereitschaft zum Engagement. Wir kennen das Wort von J.F. Kennedy: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst!“
In einer Zeit, die wesentlich geprägt ist von – z.T. sogar bezahlten, aber auf jeden Fall lautstarken – Forderungen an das Gemeinwesen, gerade jetzt braucht es das Vorbild von Menschen, die sich für die Allgemeinheit engagieren. Um das Wort in Jeremia 29,7 besser zu verstehen, ist wichtig zu wissen, dass Nebukadnezar zwar den Glauben des Volkes Israel abgelehnt hat, aber er war fasziniert von ihrer Kreativität, ihrer Schaffenskraft.
Als Christen dürfen wir uns nicht heraushalten. Wir sollen uns einbringen in das Gemeinwesen und das Miteinander in unseren Kommunen, in unserem Land mitgestalten – im Blick für den Nachbarn, im Kontakt mit Kollegen, durch Engagement in Vereinen. Wie arm wäre unsere Gesellschaft – geistig, geistlich, kulturell, sozial – würde es nicht das Bemühen von Christen geben. Der kürzlich verstorbene frühere Hamburger Erzbischof Werner Thissen – übrigens ein großer Fan der Mainschleife und des Frankenweins –, sagte einmal: „Wer glaubt, ist auch politisch“.
Kirche ist keine geschlossene Gesellschaft. Kirche ist eine verlässliche Größe in der Gesellschaft, die kontinuierlich ihren Dienst, ihr Bemühen einbringt, um das Leben der Menschen zu begleiten und das Zusammenleben zu gestalten. Wo wir das tun, z.B. im sozialen und kulturellen Bereich, bleibt es nicht aus, dass früher oder später unsere Zeitgenossen nachdenklich werden und sich für unsere Motivation interessieren.
Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann sagte kürzlich in einem Interview: „Authentisches Christsein übersetze ich damit, dass Christen eine Leidenschaft für das Mögliche haben. Es sind Menschen, die es für möglich halten, dass Beziehungen weitergehen, die es für möglich halten, dass man diese Erde retten kann, dass man sich mit dem Nachbarn versöhnen kann, dass Krankheit und Tod nicht das Ende sind. Und dort, wo Menschen das leben, wo sie ein Geheimnis ausstrahlen, wo sie Fröhlichkeit ausstrahlen, wo sie Großzügigkeit, Engagement und Humor ausstrahlen, da wird man vielleicht nicht sagen, das sind authentische Christen, aber man wird sagen, das sind sehr interessante Menschen. Was motiviert diese Menschen?“
Damit komme ich wieder zum Hinweis auf meine Mitgliedschaft im Hubertusverein. Es begeistert mich, wenn ich erlebe, wie in vielen Dörfern die Hubertusbrüder zugleich in vielen anderen Vereinen oder Institutionen engagiert sind. Es werden nicht nur Traditionen gepflegt, es wird tatkräftig angepackt, um das Zusammenleben in den Dörfern zu gestalten. Wenn ich jetzt an den Ortverein denke, in dem ich Mitglied bin, so staune ich darüber, wie viele Ortbewohner Mitglied im Hubertusverein sind, wie viele z.B. an der Jahreshauptversammlung teilnehmen und sich von da aus immer wieder bei Aktionen für den Ort einbringen.
Gewiss, das ist nur ein Beispiel im Blick auf einen Ort, auf ein Dorf. Wenn das aber an vielen Orten ähnlich geschieht, dann wird dadurch unsere Gesellschaft ein Stück lebenswerter und menschlicher.
Wir dürfen es nicht dabei belassen, bedenkliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu beklagen, sondern es kommt darauf an, dass wir uns einbringen und dadurch mitwirken an einer lebenswerten Zukunft. „Bemüht euch auf das Wohl der Stadt!“
Immer wieder lesen wir von Dörfern, in denen Mitbürger gesucht werden, die sich in und für einen Verein engagieren oder bereit sind für den Gemeinderat zu kandidieren. Am 8. März kommenden Jahres sind Kommunalwahlen. Es braucht Menschen mit Weitblick und mit Herz, d.h., Menschen, die nicht nur ein konkretes Anliegen im Blick haben, das sie gerade interessiert, sondern, die das Gesamt einer Gemeinde sehen und das Miteinander stärken und so den Ort lebenswert machen wollen.
Menschen mit Herz, damit meine ich auch das eigene geistige und geistliche Fundament, auf dem ich stehe, das mir Halt und Zuversicht schenkt. Es braucht beherzte Christen!
Es liegt auch an uns, wie sich unsere Gesellschaft, wie sich das Miteinander in unseren Dörfern und Städten entwickelt. Ich zehre heute noch von den Erfahrungen, die ich in meiner Heimat machen durfte und ich freue mich deshalb, dass ich in der Gemeinschaft der Hubertusbrüder Menschen erlebe, die durch ihren Einsatz für Mitmenschen, in kirchlichen, kulturellen und sozialen Anliegen – was ihnen oft gar bewusst ist – das Miteinander wesentlich prägen und Vorbild sind für die nachwachsende Generation.
In einem Bericht über den Hubertusverein wird die Satzung zitiert: „Der Verein will seinen Mitgliedern helfen, ein rechtes Verhältnis zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst zu finden …“ Weiter heißt es, die Mitglieder sollen „Verantwortung in der Welt“ übernehmen, sich „um eine zeit- und sachgerechte Meinungs- und Willensbildung“ bemühen und die Brüderlichkeit pflegen. Für mich ist das eine Aktualisierung der etwa 2.600 Jahre alten Aufforderung des Propheten Jeremia: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt“ (Jer 29,7). Für all euren Einsatz sage ich Euch ein herzliches „Danke“ und „Vergelt’s Gott“!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de