Was hat Sie dazu bewegt, sich persönlich in der Bahnhofsmission Würzburg zu engagieren?
„Bist du bereit, um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein?“ Ich habe diese Frage in meiner Bischofsweihe mit „Ja“ beantwortet und immer eine Möglichkeit gesucht, diesem Versprechen Ausdruck zu verleihen. Ich wollte nicht nur „Alibi“-Besuche in sozialen Einrichtungen machen, sondern ein festes Engagement eingehen. Da kam die Feier 120 Jahre Bahnhofsmission Würzburg 2019 wie gerufen. Dabei wurde auch aufgerufen, die Bahnhofsmission zu unterstützen. Danach war mir klar: „Das ist es“. Eine feste Schicht im Monat muss trotz der Fülle meiner bischöflichen Termine drin sein.
Wie erleben Sie den direkten Kontakt mit den Menschen in der Bahnhofsmission?
Viele sind überrascht, mich hier anzutreffen. Das sind schöne Momente. Aber natürlich ist man ansonsten mit vielen Lebensschicksalen konfrontiert, für die es keine einfache Lösung gibt. Man trifft Menschen am Rand der Armutsgrenze oder noch darunter. Zu Beginn habe ich sehr unter der Erfahrung der Ohnmacht gelitten. Man will helfen. Aber das Gegenüber entscheidet, ob es das Angebot annehmen will. Das lehrte mich, zuerst einmal zuzuhören und zu versuchen die Person zu verstehen. Ähnlich ergeht es mir mit den gefühlten Endlosschleifen in Gesprächen mit Menschen, die über Jahre hinweg auf der Stelle treten.
Hat Ihr Ehrenamt Ihren Blick auf das Leben und die sozialen/gesellschaftlichen Herausforderungen verändert?
Schon am Tag nach meinem ersten Dienst nahm ich in der Stadt plötzlich Menschen wahr, die ich zuvor nie gesehen hatte. Es sind die „Unsichtbaren“, wie unser Partnerbischof aus Brasilien oft von Armen spricht. Die Bahnhofsmission wurde für mich zu einem Seismograph für die sozialen Herausforderungen. Hier schlägt alles auf, was aktuell ansteht. Das zeigte sich in der Ankunft der Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und zuletzt der Ukraine. Man begegnet auch immer öfter Menschen mit psychischen Belastungen und zunehmend mit Drogenproblemen. In letzter Zeit steigt auch die Zahl junger Gäste, die auf der Straße gelandet sind, ohne Zuhause und Ausbildungsplatz. Die Begegnung mit den Gästen der Bahnhofsmission konfrontiert mich regelmäßig mit anderen Lebenswelten, zu denen ich als Bischof ansonsten kaum Zugang hätte. Das ist sehr heilsam. Zugleich ringt es mir größte Bewunderung ab, wie Menschen mit geringen Mitteln ihr Leben meistern.“
Sie bezeichnen die Bahnhofsmission als „Hoffnungsort“. Was macht sie dazu?
In Würzburg ist die Bahnhofsmission die einzige Einrichtung in der Stadt, die Tag und Nacht geöffnet ist. Faszinierend, dass es einen solchen Ort gibt. Für viele Menschen wird sie zum letzten Zufluchtsort, wenn sie an allen anderen Anlaufstellen abgeblitzt sind. Auch zum Teil für offizielle Stellen, wie Polizisten, die Menschen hier „abgeben“, wenn sie schnelle unbürokratische Hilfe benötigen. Hoffnungsort ist sie auch, weil man hier durchschnaufen kann vom aufreibenden Alltag auf der Straße. Man bekommt zu essen, kann sich aufwärmen, findet ein offenes Ohr für die Sorgen. Der Aufenthalt in der Bahnhofsmission gibt Kraft, um als „Pilgerinnen und Pilger der Hoffnung“ den nächsten Tag anzugehen und sich nicht aufzugeben.
Bahnhofsmissionen gelten als „gelebte Kirche“ am Bahnhof. Wie kann und will die Kirche diese Einrichtungen angesichts der steigenden Nachfrage stärken – auch finanziell?
Angesichts zurückgehender kirchlicher Ressourcen erachte ich dieses niederschwellige Angebot als geradezu modellhaft, auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir müssen als Kirche nicht alles allein stemmen, können aber Plattformen schaffen, wo viele sich engagiert einbringen können. Zum anderen bedrückt es mich, wie die Unterstützung durch die öffentliche Hand immer weiter zurückgefahren wird und das, obwohl der Bedarf an Hilfe steigt. Als Kirche versuchen wir durch die Caritas und unsere Fachverbände wie „IN VIA“ die Arbeit personell und finanziell zu unterstützen. Der Förderverein der Bahnhofsmission Würzburg entwickelt überdies viele originelle Fundraising-Aktionen, um die erforderlichen (Projekt-)Mittel einzuwerben. Aber die finanzielle Lage der Bahnhofsmissionen in Deutschland ist prekär. Als Kirche haben wir die Aufgabe, (politisch) daraufhin zu wirken, dass ihre wertvolle Arbeit in kirchlicher Trägerschaft wahrgenommen und ihr die Unterstützung zuteil wird, die sie verdienen. Denn nur von wenigen Einrichtungen wird man sagen können, was der Claim der Bahnhofsmission so prägnant auf den Punkt bringt mit: „menschlich.nah.unverzichtbar“.
Annette Bieber/Hedwig Gappa-Langer/Adelheid Utters-Adam | BAHNHOFSMISSION BAYERN Aktuell 2025