Prof. Dr. Christoph Butterwegge gilt als renommierter Politikwissenschaftler und Armuts- sowie Reichtumsforscher in Deutschland. Im Vorfeld des Themenabends unterhielt sich der Wissenschaftler mit Dr. Albert Brendle vom MartinsLaden Miltenberg.
Brendle: Herr Butterwegge, eine einfache Definition von Armut ist sehr schwierig. Die meisten Forscherinnen und Forscher setzen beim Einkommen der Betroffenen an. Wie lautet Ihre Definition von Armut, mit der Sie vorrangig auf Armut in Deutschland schauen?
Butterwegge: Hierzulande ist es notwendig, bei den Reichen auf das Vermögen und bei den Armen, die kein Vermögen haben, auf das Einkommen zu blicken. In einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie Deutschland, die unter dem Einfluss des Neoliberalismus extrem stark individualisiert, ökonomisiert und kommerzialisiert worden ist, spielt das Geld fast überall eine Schlüsselrolle. Sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für das Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sauberes Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung und Wohnung sowie eine medizinische Basisversorgung entbehrt. Von relativer Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse vielleicht ausnahmslos befriedigen, sich aber mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann, sondern den allgemein üblichen Lebensstandard in seinem Land über einen längeren Zeitraum hinweg deutlich unterschreitet. Diese Form einer scheinbar „milderen“ Armut führt zu sozialer Ausgrenzung und beruht im Wesentlichen auf einem durch fehlende Ressourcen bedingten Mangel an Teilhabe- bzw. Partizipationsmöglichkeiten.
Brendle: Besser wäre es, es bräuchte überhaupt keine Tafelläden. Gleichzeitig gibt es viele ältere Menschen, Alleinerziehende und Nicht-Deutsche, die in relativer Armut leben. Was sind aktuell die wichtigsten Ursachen von Armut und Reichtum in Deutschland?
Butterwegge: Für die sich zuletzt vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich sind gesellschaftliche Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion im Gefolge des Ukrainekrieges und die Inflation, aber auch viele (Fehl-)Entscheidungen von Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen aus früheren Jahren verantwortlich. Genannt seien nur die „Agenda 2010“ sowie die Hartz-Gesetze, also Reformen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes, zur Demontage des Wohlfahrtsstaates und zur Deformation des Steuersystems. Außerdem spielen die soziokulturellen, intellektuellen und politisch-ideologischen Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Polarisierungsprozess, von dem hier die Rede ist, eine Schlüsselrolle. Dazu gehört etwa die Art und Weise, wie die wachsende Ungleichheit im öffentlichen Diskurs, aber auch gegenüber den von Armut betroffenen oder bedrohten Personengruppen legitimiert wird.
Brendle: Was muss konkret geändert werden, dass relative Armut in Deutschland verringert wird und eine gerechtere Verteilung von Zuwachs und Wohlstand, der allen zugutekommen muss, in Deutschland stattfindet?
Butterwegge: Wenn meine Analyse zutreffend ist, muss man auf drei Ebenen ansetzen: Neben einer Reregulierung des Arbeitsmarktes mit einem höheren Mindestlohn, einer gezielten Zurückdrängung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und einer Stärkung der Tarifbindung müssen eine Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates zu einer solidarischen Bürgerversicherung und eine Kehrtwende zu einer sozial gerechten Steuerpolitik stattfinden. Entscheidend ist letztlich jedoch, ob es gelingt, das gesellschaftliche Klima im Rahmen einer politischen (Gegen-)Mobilisierung zu verbessern und eine neue Kultur der Solidarität zu entwickeln, die Zuwanderer und ethnische Minderheiten genauso selbstverständlich umfasst wie einheimische Arbeitslose und Arme.
Brendle: An welcher Stelle kommt bei Ihnen die Beschäftigung mit dem Thema Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln vor?
Butterwegge: Da sich mein Blick auf die Armen richtet, eigentlich nur am Rande, weil sie sich den verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln gar nicht leisten können. Es handelt sich dabei eher um ein Problem, das von den materiell Bessergestellten ausgeht.
Brendle: Schwerpunkt der Arbeit der Tafelläden, auch der MartinsLäden im Landkreis Miltenberg, ist die Rettung von noch genießbaren Lebensmitteln vor der Vernichtung und deren Abgabe an Bedürftige zu einem symbolischen Preis – also die Hilfe in der Not. Wie bewerten Sie die Arbeit der Tafeln und Tafelläden in Deutschland?
Butterwegge: Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Auf der einen Seite tun die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tafeln und Tafelläden etwas ausgesprochen Nützliches, indem sie es sozial Benachteiligten ermöglichen, an gesunde Lebensmittel, Obst und Gemüse zu kommen. Diese können dort auch soziale Kontakte knüpfen und pflegen, was sinnvoll ist, weil Armut sozial ausgrenzt und oft einsam macht. Tafeln und Tafelläden sind daher wichtige Begegnungsstätten und soziale Einrichtungen. Auf der anderen Seite erleichtern sie es der Gesellschaft und dem Sozialstaat, sich unter dem Hinweis auf ihre Existenz aus der Verantwortung zu stehlen. Sie müssen jedoch als Notlösung begriffen werden und eine bloße Ergänzung des Sozialstaates bleiben, dürfen also keinen Ersatz für ihn bilden.
Brendle: Wie gehen Sie mit Kritik an Ihnen um, die in erster Linie in Ihnen nur den Umverteiler, Klassenkämpfer oder Anti-Kapitalisten sehen?
Butterwegge: Ich bekenne mich offen dazu, „Gutmensch“ und „Weltverbesserer“ zu sein. Soll ich denn meinen Kindern eine Welt hinterlassen, die voller Ungleichheit, Not und Elend, aber auch Ort von Kriegen und Bürgerkriegen ist, ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Guten zu bewegen?
Brendle: Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Albert Brendle | MartinsLaden Miltenberg