Würzburg. Um Menschen auf der Schattenseite des Lebens betreuen oder helfen zu können, muss man ihr Lebensgefühl verstehen. Mit Dr. Eva Schuster, Professorin an der Katholischen Fachhochschule Mainz, diskutieren über fünfzig Berater/innen und Seelsorger/innen aus der Diözese Würzburg im Rahmen einer zweitägigen Tagung im Schönstattzentrum Marienhöhe über Zugänge zu solchen Menschen. Eingeladen zur Tagung hatte die diözesane Arbeitsgemeinschaft Beratung beim Diözesan-Caritasverband.
Seit zwölf Jahren untersucht Schuster die Verhältnisse in der Jugendhilfe, die Förderung sozial benachteiligter Familien und Auswirkungen der Kindesverwahrlosung. In ihrem Vortrag ging sie besonders auf die Zusammenhänge zwischen Armut und Bildung ein. Nur jede vierte allein erziehende Frau bekomme Unterhalt von ihrem Mann. Eine hohe Kinderzahl, so Schuster, sei interessanterweise gleichzeitig ein Indikator für Armut und Reichtum. Denn drei oder mehr Kinder gibt es heute fast nur noch in Familien der Unter- oder Oberschicht. Familien der Unterschicht sehen sie als einzige Aufgabe an bzw. hoffen auf staatliche Unterstützungen, und besonders wohlhabende Familien können sich mehrere Kinder bei oft einem Einkommen leisten. Die meisten Familien der Mittelschicht belassen es aus Kostengründen hingegen bei ein oder zwei Kindern.
Bildung wird weiblich - Armut männlich
Das deutsche Bildungssystem wird immer weiblicher. An höheren Schulen und Universitäten - bei letzteren mit 55 Prozent - dominieren inzwischen deutlich die Frauen, an Hauptschulen die Jungen. Jedes Jahr verlassen ca. neun Prozent eines Jahrgangs die Hauptschule ohne Abschluss - die meisten sind männlich. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund aus der Türkei oder Osteuropa und sind selbst in der dritten und vierten Generation sprachlich immer noch nicht richtig integriert.
"Armutsklischees in der Sozialforschung früherer Jahre waren Begriffe wie Mädchen, katholisch und Bayerischer Wald. Heute sind es Junge, allein erziehend und städtisch", erläuterte die Mainzer Sozialforscherin. Während das Nettoeinkommen der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung zwischen 1996 und 2005 um fünf Prozent gesunken sei, habe sich das der reichsten zehn Prozent um zehn Prozent erhöht. Arme Menschen haben wenig Zugang zu Bildung. Der Regelsatz für Hartz IV in Höhe von 347 Euro sieht z.B. kein Geld für Schulausstattung und Schulbesuch vor. "In solchen Familien gibt es einen hohen Fernseh- und Computerkonsum, aber keine Bücher, kein Verständnis für Bildung und keine berufliche Perspektive". Armut und schlechte Bildung, Gesundheit und Ernährung vererben sich daher immer weiter. Arme Kinder haben schlechte Zähne, häufige Atemwegserkrankungen, leiden unter Fehlernährung und Übergewicht und kommen früh mit Alkohol und Nikotin in Berührung. Je ärmer die Menschen, um so häufiger treten Herz-Kreislaufbedingte Todesfälle auf. Die Lebenserwartung in armen Familien liege ca. zehn Jahre unter dem deutschen Durchschnitt. "Heutige arme Kinder", so Schuster, "sind die armen Erwachsenen von morgen". In keinem anderen Industriestaat hingen Armut und Benachteiligung so eng zusammen wie in Deutschland. Wenn die Gesellschaft hier nicht ihre soziale Verantwortung wahrnehme, schaffe diese Entwicklung erhebliche soziale Sprengstoffe, mahnte Schuster die Berater und Seelsorger.