„Was hat Sie auf dem alternativen Stadtrundgang, der unter anderem zur Bahnhofsmission, zum Caritasladen und zur Kurzzeitübernachtung für Wohnungslose führte, besonders berührt“, fragte zum Einstieg Dr. Regina Augustin, Studienleiterin der Akademie Domschule die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Viele äußerten sich einerseits bedrückt, angesichts zunehmender Armut in der Stadt, anderseits beeindruckt vom großen beruflichen und ehrenamtliche Engagement, das die Kirchen mit Caritas und Diakonie einbrächten.
„Wer kann ungerechte Strukturen verändern? Und wer hat den Willen dazu?“ Mit dieser Frage übergab Augustin die Moderation der hochkarätigen Runde an Dr. Stefan Meyer-Ahlen, Studienleiter für Theologie im Fernkurs. Auf dem Podium hatten sich der ehemalige Regierungspräsident Dr. Eugen Ehmann, die neue Sozialreferentin der Stadt Würzburg Eva von Vietinghoff-Scheel, die erste Stellvertreterin des Landrats Christine Haupt-Kreuzer und Kilian Bundschuh, Referent für besondere Lebenslagen der Caritas, eingefunden.
Vier große Fragenkomplexe wurden unter Einbezug des Publikums intensiv diskutiert: Bürgergeld, Zugang zum Gesundheitssystem, Wohnraummangel und niederschwellige Angebote in der Stadt. Wenngleich unterschiedlich pointiert, war sich das Podium darüber einig, dass mehr getan werden müsse für Menschen in prekären Lebenslagen. Besonders mit Blick auf Kinder müsse dafür gesorgt werden, dass Armut nicht vererbt werde.
Die aktuelle Diskussion um das Bürgergeld sei nicht zielführend, bestand Einigkeit. Ehmann schlug vor, „diesen Kampbegriff abzuschaffen und vielleicht besser vom Existenzgeld zu sprechen“. Bundschuh gab seiner Befürchtung Ausdruck, dass auch daraus schnell wieder ein Kampfbegriff werden können. „Am Ende ist es den Betroffenen egal, wie es heißt. Sie sind angewiesen auf eine auskömmliche Unterstützung.“ Außerdem, so Bundschuh, beseitige das Bürgergeld die Armut nicht. Vietinghoff-Scheel forderte ein Ende der Stigmatisierung von Menschen, die auf Leistungen des Jobcenters angewiesen sind. „Wer geht denn gerne zum Jobcenter?“ Gleichzeitig wünschte sich die Sozialreferentin mehr Vertrauen in die Arbeit der Institutionen. Haupt-Kreuzer stellte rückblickend klar, dass es immer schon Menschen gab, die das Sozialsystem ausnutzen würden. „Das ist aber eine kleine Minderheit.“ Es werde schnell vergessen, dass wir es immer mehr mit Menschen mit psychischen Belastungen zu tun haben.
Dr. Eugen Ehmann, Experte für das Themenfeld Wohnsitzlosigkeit appellierte eindringlich für das Konzept „Housing first“. Die eigene Bleibe sei eine existenzielle Grundlage. Alle auf dem Podium waren sich einig, dass es mehr Wohnraum brauche. „Bauen muss einfacher werden“, so Haupt-Kreuzer. Bundschuh stellte fest, dass die bürokratischen Hürden immer größer werden würden. „Manches geht nur noch per Internet oder Handy-App. Damit kommen viele überhaupt nicht klar.“ Auch in diesem Punkt war sich die Runde einig: Digitalisierung sei notwendig, es brauche aber für Menschen, die unter hohen Belastungen litten, direkte und niederschwellige Angebote von Mensch zu Mensch.
Mit großer Leidenschaft stellte Bundschuh die niederschwelligen Dienste der Caritas vor. „Wir bieten mit der Allgemeinen Sozialberatung flächendeckend einen niederschwelligen Zugang für alle an. Das wird von den Kirchen getragen.“ Er wies darauf hin, dass Bahnhofsmissionen, Wärmestuben und anderes zu wenig Zuschüsse bekämen, weil es sich nicht um sogenannte Pflichtaufgaben handele.
Das Publikum beteiligte sich intensiv an der Debatte und brachte sich mit Fragen und Vorschlägen ein. „Wir brauchen auch niederschwellige Zugänge zum Gesundheitssystem.“, „Da muss abgerüstet werden bei der Masse an Anträgen.“, „Wieso fördert das Steuerrecht immer mehr die Schere zwischen Arm und Reich?“
Würzburgs Sozialreferentin brachte es so auf den Punkt: „Die Erkenntnisse sind seit Jahrzehnten da. Es fehlt an der Umsetzung. Der Gesetzgeber muss seinen Job machen und vieles im komplizierten System vereinfachen.“ Haupt-Kreuzer schlug vor, dass sich die Behörden besser vernetzen müssten. Ehmann mahnte mehr Engagement an, „weil verfestigte Armut am Ende uns alle als Gesellschaft teuer zu stehen kommt.“ Bundschuh wünschte sich mehr Menschlichkeit im alltäglichen Miteinander.
„Wir könnten stundenlang intensiv weiterdiskutieren“, meinte schließlich Dr. Regina Augustin, doch der Abend sei bereits fortgeschritten und die eingeplante Zeit längst vorüber. Augustin dankte der Expertinnen- und Expertenrunde sowie dem Publikum, das sich aktiv und kritisch eingebracht habe. Ein besonderer Dank ging an Esther Schießer vom Orts- und Kreiscaritasverband. Schießer verantwortet dort seit vielen Jahren die alternativen Stadtrundgänge.
Am Ende lud Augustin bereits zu den Armutswochen 2026 ein. „Wir haben nun gemerkt, dass es einen großen Bedarf gibt. Für das kommende Jahr sind weitere Veranstaltungen auch mit direkt Betroffenen geplant.“
Sebastian Schoknecht