Die Predigt im Wortlaut:
Das ging unter die Haut! In der vergangenen Woche war ich mit Freunden, darunter unsere Ehrenvorsitzenden, Landtagspräsidentin a.D. Barbara Stamm, in Bayern unterwegs, um große soziale Einrichtungen zu besuchen, zu besichtigen und Kontakte in der Zusammenarbeit zu vertiefen.
So kamen wir auch nach Ursberg in Schwaben, dem Sitz des Dominikus-Ringeisenwerks, zu dem auch die große Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in Maria Bildhausen bei Münnerstadt, also in unserer Diözese, gehört. Neben den vielen verschiedenen, uns bekannten Diensten, Angeboten und Bemühungen, um Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und z.T. mehrfachen Behinderungen Hilfe, Halt und Geborgenheit zu schenken, haben wir die jüngste Einrichtung des Dominikus-Ringeisenwerks kennengelernt. Und das ging unter die Haut!
In der großen Einrichtung in Ursberg arbeitet seit über zehn Jahren ein Arzt, der aus der Ukraine stammt. Er berichtete den Verantwortlichen von der Not einer Einrichtung für schwerst mehrfach behinderte Menschen oder – wie es im heutigen Amtsdeutsch heißt – „Menschen mit komplexen Behinderungen“. Diese Einrichtung befindet – besser gesagt befand – sich in Krywyj Rih im Osten der Ukraine. Sie liegt nahe an der Kriegsfront und wurde durch Angriffe bedroht, weil bei diesem Krieg keine Rücksicht genommen wird auf Krankenhäuser, soziale Einrichtungen, Kindergärten und Schulen. Auch darüber werden Bomben abgeworfen.
Um das Leben der völlig hilflosen Menschen zu retten, wurde in Ursberg in kürzester Zeit eine Hilfsaktion organisiert. Gegen alle behördlichen Widerstände wurde mit starker politischer Unterstützung dafür gesorgt, dass die Menschen aus dem Behindertenheim in einem Eisenbahnzug nach Polen gebracht wurden. Von dort sollten sie eigentlich mit Bussen nach Ursberg gefahren werden. Bei der mehr als dreißigstündigen Eisenbahnfahrt wurde aber deutlich, dass die Menschen mit ihren schweren Behinderungen weder mit Bussen noch mit der Eisenbahn nach Deutschland gebracht werden können.
Von Ursberg aus wurde mit entsprechender politischer Unterstützung und dem dadurch möglich gewordenen direkten Kontakt zur Frau des polnischen Staatspräsidenten Agata Kornhauser-Duda von der polnischen Regierung ein Flugzeug bereitgestellt, um die Menschen zunächst nach München und von dort mit Spezialfahrzeugen nach Ursberg zu bringen. Dort wurde gleichsam über Nacht eine große Immobilie, die gerade frei gemacht worden war für eine Modernisierung entsprechend den Auflagen der AVPfleWoQ, eingerichtet und ausgestattet für die 82 Menschen im Alter von 5 bis 32 Jahren.
Weil innerhalb weniger Tage keine vorschriftsmäßigen Pflegebetten geliefert werden konnten und die Lieferung noch Monate Wartezeit bedeutet hätte, wurden über Nacht in einem großen Möbelhaus neunzig einigermaßen brauchbare Betten gekauft. Beim Umbetten der Menschen vom Flugzeug in die Spezialfahrzeuge fiel auf, dass die Gefahr sehr groß erschien, dass die Pflegebedürften aus den Betten fallen könnten. Deshalb wurde in Ursberg mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr eine Blitzaktion gestartet und binnen eineinhalb Stunden, bis der Konvoi vom Flughafen eintraf, waren passende Bretter vorbereitet, um die Menschen zu schützen.
Allein schon die Schilderung erzeugte Gänsehaut. Mehr noch ging der persönliche Kontakt zu den betreuten Menschen und zu den Pflegekräften, die größtenteils aus der Einrichtung in der Ukraine mitgekommen waren, unter die Haut.
Uns fiel besonders auf, dass die behinderten Menschen, die dazu körperlich in der Lage waren, angetan waren von der Aufmerksamkeit für sie. Das schiens sie mehr zu begeistern als die von uns überreichten Geschenke – insbesondere Spielsachen. So brachten sie in ihrer ganz eigenen Art ihre Freude und ihren Dank auf zärtliche Weise zum Ausdruck.
Insbesondere Barbara Stamm, die unter den langjährig Beschäftigten in der Einrichtung noch als Sozialministerin in bester Erinnerung ist, weil sie häufig zu Besuch kam, dankte für den beherzten und entschiedenen sowie selbstlosen Einsatz und versprach ihre Unterstützung. Und diese Hilfe ist wichtig! Das aus der Ukraine mitgekommene Personal wurde vom Dominikus-Ringeisen-Werk angestellt. Deshalb war es sehr hilfreich, dass in diesen Tagen der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek ebenfalls in der Einrichtung war. Mit seiner Hilfe konnten bürokratische Hürden beseitigt werden.
Bewusst habe ich diesen Einsatz so ausführlich berichtet, auch wenn der Einsatz „nur“ einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen galt. Wir müssen daran denken, dass nach Angaben des UNHCR derzeit fast einhundert Millionen Menschen rings um den Erdball auf der Flucht sind. Was sind also 82 Menschen! Bedauerlicherweise ist inzwischen sogar eine junge Betreute dort verstorben. Dennoch ist diese Aktion bemerkenswert, weil sie einer Gruppe galt, die nicht im Fokus der Öffentlichkeit steht und deren Lebensrecht eher in Frage gestellt wird. Wir müssen nur an die Diskussionen denken, in denen es immer wieder auch so formuliert wird: „Es muss heute kein Behinderter mehr auf die Welt kommen!“
Umso mehr wird die Menschlichkeit dieser Aktion deutlich, auch wenn sich kein Fernsehsender dafür interessiert. Dennoch verdient der Mut der Verantwortlichen in Ursberg höchsten Respekt, gerade auch deshalb, weil ihnen anstatt Hilfe und Unterstützung zunächst Bedenken und sogar massive Vorhaltungen entgegengebracht wurden.
Damit bin ich bei der biblischen Botschaft dieses Gottesdienstes zum Weltflüchtlingstag, dem Gleichnis Jesu vom Barmherzigen Samariter. Da ist ein Mann zwar nicht in Mitleidenschaft eines Krieges geraten. Er fiel „nur“ unter die Räuber, in die Hände von Leuten also, denen das Leben ihres Gegenüber egal ist – eben wie im Krieg, wo es um Land, Geld und Macht geht.
Die Amtsträger, die auf die Not aufmerksam wurden, hielten sich streng an ihre Regeln und Vorschriften. Der eine hatte jetzt Pause, der andere musste zum Dienst.
Einer aber, der eigentlich – aufs erste besehen – nichts mit der Sache zu tun hatte, einer, der als Fremdling galt, setzt Maßstäbe. Er hilft, ohne lange zu überlegen oder sich zunächst die Genehmigung dafür einzuholen. Mehr noch: er setzt, wie wir heute sagen würden, Eigenmittel ein und sorgt für Hilfe. Ja, er geht sogar das Risiko ein, dass er letztlich an der Sache „hängenbleibt“ und die Kosten alleine zu tragen hat.
Die vergangenen Jahre haben, auch durch die mediale Begleitung von Fernsehen, Hörfunk und Presse, unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Menschen aus Übersee gelenkt, die – ob nun aus Gründen von Krieg und Terror oder aus wirtschaftlichen Gründen oder Armut – aus ihrer Heimat fliehen mussten. Spätestens seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird uns bewusst, dass es in allen Kontinenten, auch bei uns in Europa, Menschen gibt, die fliehen müssen und darauf angewiesen sind, dass sie Mitmenschlichkeit und Hilfe erfahren dürfen.
Nicht alle sehen ihre Zukunft bei uns. Viele wollen wieder zurück in ihre Heimat, sobald es die Umstände wieder möglich machen. Dennoch braucht es für die Zeit mit und bei uns mehr als nur ein Dach über dem Kopf, ein Bett und etwas zu essen. Es braucht menschliche Zuwendung und Anteilnahme an ihrem Schicksal. Es braucht aber darüber hinaus auch Beschäftigung oder Ausbildung und auf jeden Fall die Vermittlung von Sprachkenntnissen, um so an einer Welt mitzubauen, in der sich die Menschen verstehen. Und wie viel Aussaat zum Frieden bedeutet es, wenn Menschen sich eines Tages erinnern: Damals in Deutschland wurde mir geholfen, damit ich meinen Weg in eine gute Zukunft gehen konnte.
Es geht also um Hilfe bei einer Flucht, die notwendig wird, aber dann sicher verlaufen soll, um das Leben der Flüchtenden nicht zu gefährden oder sie gar kriminellen Schleusern auszuliefern. Es geht um sichere, humanitäre Fluchtkorridore.
Es darf nicht nur darum gehen, uns für die Geflüchteten zu engagieren, bei denen wir die Chance für die Gewinnung von Fachkräften für unseren Arbeitsmarkt sehen.
Es geht auch um Alte, Kranke und Hilfs- und Pflegebedürftige, denen wir durch unsere Bemühungen ihre Menschenwürde geben, so wie meinen Freunden und mir das in der vergangenen Woche in Ursberg deutlich wurde. Es ging in der Tat unter die Haut, sehen zu können, dass hier absichtslos geholfen und damit ein Zeichen für die barmherzige Liebe Gottes gesetzt wird.
Dem Gleichnis Jesu vom Barmherzigen Samariter ging die Frage des Gesetzeslehrers nach dem Weg zum Leben in Fülle, zum ewigen Leben voraus und seine Antwort an Jesus: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Auch im Blick auf Menschen mit Fluchterfahrung, Menschen aus unterschiedlichem ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergrund gilt dieses Dreieck aus Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe. Und dabei dürfen Menschen, wie wir ihnen vor einigen Tagen in Ursberg begegnet sind, nicht vergessen werden. Es wäre nicht menschlich, wenn nur berichtet wird, wie viele Akademiker, Mediziner, Mitarbeiter sozialer Berufe wie Pflegekräfte oder Facharbeiter unter den Geflüchteten sind. Zur wirklichem menschlichen Verhalten gehört auch der Einsatz für Menschen wie in Ursberg. Das geht zwar unter die Haut, ist aber heilsam, zu erkennen, dass wir noch längst nicht die ganze Dimension dessen erfasst haben, was derzeit in der Welt passiert. Deshalb möge Gott uns Herz und Augen weiten, um so beherzt zu helfen, wie das in Ursberg erfolgt ist.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Herr, mache deine Kirche
Herr,
mache deine Kirche zum Werkzeug deines Friedens
Wo Menschen sich befehden
ein jeder gegen jeden
hilf uns den Frieden schaffen
in einer Welt von Waffen
Herr,
Mache deine Kirche zur Stimme deiner Wahrheit
Inmitten von Intrigen
Verdrehungen und Lügen
hilf uns die Wahrheit finden
und unbeirrt verkünden.
Herr,
mache deine Kirche zum Anwalt aller Armen.
Dass sie stets auf der Seite
der Unterdrückten streite
hilf uns das Recht verbreiten
auch für die Minderheiten
Herr,
mache deine Kirche zum Anfang deiner Zukunft
dass alle in ihr sehen
die neue Welt entstehen
du kannst uns Menschen einen
Herr, lass dein Reich erscheinen
(Lothar Zenetti)