Die Predigt im Wortlaut:
„Eine schleichende Zeitenwende“ – so kommentierte die Historikerin Hedwig Richter bei einer Tagung der EKD den massiven Mitgliederschwund der beiden großen Kirchen in Deutschland. „Eine schleichende Zeitenwende“, die auch die Gesellschaft komplett verändere. Aktuell gehört nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden Kirchen in unserem Land an. Das wird zu grundsätzlichen Veränderungen in der Gesellschaft führen, so Hedwig Richter. Deshalb warnte sie davor, den Rückgang der Kirchenbindung zu unterschätzen.
Die Sorge um die Auswirkungen der großen Zahl an Menschen, die den christlichen Kirchen den Rücken kehren, kommt in vielen Stellungnahmen und Kommentaren zum Ausdruck. Stets wird auf den Beitrag der Kirche zur Demokratie sowie ihre gesellschaftspolitische Verantwortungsübernahme hingewiesen, ebenso auf das ehrenamtliche Engagement. Fast die Hälfte der Kirchenmitglieder engagiert sich in Ehrenämter, und zwar nicht nur im kirchlichen Bereich, sondern vielfach in der gesamten Zivilgesellschaft.
Im Blick auf unsere Gesellschaft wissen wir um den Trend zur „Deinstitutionalisierung und Individualisierung“, der viele Bereiche unseres Gemeinwesens und des Zusammenlebens betrifft. Umso mehr gilt es, klug darauf zu achten, die Mitverantwortung der Kirche für das Gemeinwesen nicht voreilig und „leichtfertig aufs Spiel“ zu setzen.
Politiker unterschiedlicher Parteien verweisen im Zusammenhang mit den Erkenntnissen der KMU-Studie auf die gesellschaftliche und politische Relevanz. So würden von den Kirchen Stellungnahmen etwa zu ethischen, sozialen oder umweltpolitischen Themen erwartet. Zudem seien sie wesentlich für die Stabilisierung von Gesellschaft und Demokratie.
So hieß es z.B., dass Kirche im politischen Betrieb immer noch „ein sehr wichtiger Berater“ sei. Das gehe weit über einen politischen Lobbyismus hinaus, da sich die Kirche um die gesamte Gesellschaft sorge, und eine Vielzahl an Themen betreffe, von der Kita über die Gefangenenseelsorge bis zum Umgang mit Menschen in Katastrophen. Wörtlich hieß es: „Wir brauchen die Kirche gerade in ganz schwierigen gesellschaftlichen Situationen.“
Ein Sozialwissenschaftler verwies im Blick auf Ergebnisse der KMU-Studie, dass die soziale Reichweite der Kirchen höher sei als die religiöse. So seien die Kirchen als zivilgesellschaftliche Akteure weiter „hoch willkommen“.
In einem Leserbrief in der FAZ stand zu lesen: „… Die beiden Kirchen brauchten sich keine großen Sorgen um ihre Mitgliederzahlen zu machen, wenn sie einfach selbst die christlichen Werte leben würden, und zwar in der Führungsebene. Die sozialen Dienste in Kinder- und Jugendarbeit, Alten- und Krankenbetreuung oder Patenschaften mit Gemeinden der Dritten Welt repräsentieren die christliche Lehre im besten Sinne. Aber wer leistet diese Arbeit? …“
Für mich betrifft der Hinweis des Leserbriefschreibers keinesfalls nur Bischöfe, an die viele spontan denken. Dazu verweise ich gerne auf unseren Bischof, der regelmäßig ehrenamtlichen Dienst in der Würzburger Bahnhofsmission leistet und dort Hilfesuchende betreut. Der Leserbrief erinnert mich vielmehr an zahlreiche Diskussionen auf unterschiedlichsten Ebenen der Kirche und ihrer vielen Gremien. Dabei geht es oft darum, warum wir als Kirche Kindergärten, Sozialstationen, Seniorentagesstätten, Pflegeheime, Jugendhilfeeinrichtungen, Behindertenwerkstätten, Beratungsdienste usw. unterhalten sollten. Ohne die Diskussion darüber zu vertiefen, gilt es festzuhalten, dass viele dieser Dienste von anderen nicht oder nicht in der uns wichtigen Qualität geleistet würden. Uns geht es um die Menschen, auch dort, wo wir sogar Geld mitbringen, um helfen zu können.
Deshalb verwundert es den Außenstehenden schon, mit welcher Leidenschaft die Diskussion um binnenkirchliche Gremien geführt wird, aber leider nicht über die Notwendigkeit der erforderlichen Dienste an und für Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen. Sehr kritisch berichtete Daniel Deckers in der FAZ von der Tagung des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK), wo der Vorschlag „auf breite Ablehnung stieß“, das ZdK zu reformieren. Die Überlegung war, die Zahl der Mitglieder des ZdK um ein Drittel zu reduzieren und die Vollversammlung nur noch einmal im Jahr abzuhalten. Wörtlich hieß es im Artikel: „Keine Gnade fand die Behauptung, durch die Einsparung der Kosten für eine zweite jährliche Vollversammlung in Höhe von etwa 100.000 Euro werde das ZdK handlungsfähiger. Notwendig sei es vielmehr, die Arbeit des Zentralkomitees auskömmlicher zu finanzieren.“
Im Kommentar zum zitierten Artikel hieß es: „Neue Leitungsmodelle, wie sie auf dem Synodalen Weg mit Inbrunst ersonnen werden, sind indes nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung, um weitere Austrittswellen zu verhindern. Was Kirche bedeuten kann, muss vor Ort erfahrbar sein, in Diakonie, Liturgie und anderen Zeugnissen des Glaubens.“ Damit komme ich nochmals auf die KMU-Studie zu sprechen, die festgestellt hat, dass der Verlust der Kirchenbindung in vielen Fällen Ausdruck des Verlustes an Glauben ist.
Unser Glaube an den in Jesus menschgewordenen Gott, seine Menschenfreundlichkeit, seine Frohe Botschaft und seine Sendung zum Dienst am Nächsten ist die Grundlage unseres Tuns. Diesen Glauben zu verkünden und durch unser Tun zu bezeugen, muss allen Diskussionen um Ämter, Macht, Kontrolle, Weihe von Frauen, Sexualmoral und priesterliche Lebensform vorausgehen. Dabei gilt es immer wieder zu betonen: Ohne gelebte und praktizierte „caritas“ – und zwar sowohl in unmittelbaren zwischenmenschlichen Miteinander wie auch in der institutionalisierten Caritas mit ihren kontinuierlichen Hilfsangeboten und Diensten – ohne die konkrete Sorge um die Menschen gibt es keine christliche Kirche.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack zielt in diese Richtung, wenn er sagt: „Gute Seelsorge, karitatives Engagement, Jugendarbeit und Religionsunterricht mit Qualität erhöhen die Chancen, dass die Menschen neues Vertrauen entwickeln.“
Damit bin ich bei der biblischen Botschaft des ersten Advents. Die Wachsamkeit, zu der Jesus aufruft, ist keineswegs Untätigkeit, kein naives Hoffen auf bessere Zeiten, vielmehr ein sehr bewusstes Wahrnehmen von Verantwortung, ein sehr kluges und auf Zukunft bedachtes Handeln in allen Lebensbereichen. „Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe“, sagt Jesus. Das gilt für alle Bereiche des Gemeinwesens wie der Politik, der Ökonomie, der Ökologie, ebenso des sozialen Miteinanders wie auch für ethische Fragen, wie z.B. des Lebensschutzes. Es betrifft die Fragen nach dem Frieden in der Welt. Es gilt aber auch für die Fragen nach dem Miteinander in unseren überschaubaren Städten und Gemeinden. Es gilt für die Frage nach der Zukunft unserer Kinder, unserer Alten, Schwachen und Kranken, unserer Familien sowie der Menschen am Rande der Gesellschaft. Und hinter der Frage nach der Zukunft steckt die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens. Dazu ist uns als Kirche vom Herrn des Hauses die Aufgabe übertragen worden, den Glaubens an den Herrn des Lebens, unseren Gott, weiterzugeben.
„Seid wachsam!“Das heißt nicht zu protestieren, sondern einen besseren, lebenswerteren Weg aufzuzeigen bei dem, was Menschenwürde, was die Bedeutung von Familie, was die Bildung, besonders die Herzensbildung der Kinder, was Sozialkultur und Arbeitsplatzsicherung, was Gerechtigkeit und ehrenamtliches Engagement betrifft. Somit zeigen wir beachtenswerte Wege für ein Leben mit Zukunft auf – sogar über diese begrenzte irdische Zeit hinaus. Dadurch wird deutlich, ob ich nur mit besseren Zahlen rechne oder mit IHM, dem Herrn, und auf SEINEM Weg, dem Weg der Frohen Botschaft, mit einem besserem Leben.
Wachsamkeit ist auch für uns in der Kirche das Gebot der Stunde. Viele sind intensiv bemüht, mit strukturellen und organisatorischen Überlegungen, mit neuen Gremien die Kirche auf Zukunft hin handlungsfähig zu halten. Genau deshalb ist es entscheidend wichtig, welche Akzente wir jetzt setzen und welche Entscheidungen wir treffen, damit daraus eine Pastoral erwächst, die in den Veränderungen von Kirche und Gesellschaft die Sorge um das Leben aus dem Geist Jesu und seiner Frohen Botschaft deutlich macht und Hoffnung vermittelt. Es geht um entscheidend mehr als um funktionierendes kirchliches Management!
Die Adventszeit lädt uns ein, uns wieder neu auf den Weg zu machen und zu überlegen, was den Einzelnen und uns alle als Christen wirklich trägt und nährt, und zu versuchen, wachsam zu werden für das Eigentliche, für das, was von entscheidender Bedeutung für unser Leben ist.
Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Eine Kirche, die nicht auf die Wiederkunft des Herrn wartet, hat den Kern ihres Wesens, ihrer Kraft aufgegeben.“ Von dieser Erwartung her ist es wesentlicher Auftrag der Kirche, sich selbst und die Menschen danach zu fragen, worauf hin sie leben, um sie dann hinzuweisen auf die Fülle des Lebens, die Jesus verheißt. Durch unseren Dienst an der Gesellschaft können wir dazu beitragen, dass uns erspart bleibt, was vor wenigen Tagen in der ZEIT zu lesen war: „Wann verliert eine Gesellschaft ihren Halt? In Frankreich wird ein 16-Jähriger bei einem Dorffest erstochen, daraufhin marschieren Rechtsextreme auf, um ihn zu rächen. Radikale werden aggressiver, die Politik wirkt hilflos.“ Das Miteinander braucht kein ideologisches, vielmehr ein geistiges und geistliches Fundament. Darauf zu achten, ist unsere Aufgabe.
„Eine schleichende Zeitenwende“, die unsere Gesellschaft verändert, sagte die Historikerin Hedwig Richter. Wenn die Erwartung auf IHN in den Herzen und Köpfen der Menschen wieder wach wird, dann wendet sich der derzeitige Trend, das Hier und Jetzt mit all seinen Herausforderungen, Unsicherheiten und Zumutungen zum Besseren. Dann gehen wir einer guten Zukunft entgegen und werden gemeinsam die Bedrohungen für das Leben und das Miteinander meistern. So wird der Advent zum Aufbruch mit Gott und damit in eine gute Zeit.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
DU LICHT
Du Licht,
das uns durch dunkle Zeiten trägt,
das Ängste und Sorgen vertreibt,
das uns Hoffnung in der Bedrängnis gibt
und uns Rettung und Hilfe verspricht.
Komm!
Du Licht,
das den Neubeginn ankündigt,
das die Schrecken der Nacht bannt,
das den Morgen anbrechen lässt
und uns durch den Tag begleitet.
Komm!
Du Licht,
Leitstern durch unser Leben,
Kraftquell auf all unseren Wegen,
Orientierung und Ziel,
unser Heil, unsere Zukunft.
Komm!
(Gisela Baltes)