Eigentlich hätte Rüdiger M. im letzten Sommer groß feiern müssen. 25 Jahre hat er erfolgreich hinter sich. 25 Jahre was? Das ist das Problem. 25 Jahre wohnungslos, davon 21 auf der Straße. Seit Sommer 1983 lebt der gelernte Maler und Restaurator auf der Straße. Doch zum Feiern war ihm wahrscheinlich nicht zumute. Außerdem hat ihm das Geld gefehlt. Und die Gesundheit. Denn Rüdiger hat zu dieser Zeit für viele Monate im Krankenhaus gelegen. Die halbe Lunge haben sie ihm entfernen müssen, der Krebs war schon weit fortgeschritten. „Das ist wegen der Asbestbelastung aus meiner Berufszeit, nicht wegen dem Rauchen“, betont Rüdiger. Doch auf seine Zigaretten muss er jetzt verzichten. Sein Atem geht so schon schwer genug.
In den Monaten des Klinikaufenthaltes hat Rüdiger neben seiner halben Lunge auch seine neue Familie verloren. Partnerschaften hatte er bis dahin schon mehrere gehabt und vier fremde Kinder groß gezogen. Doch erst mit 51 Jahren und nach über zwanzig Jahren auf der „Platte“ hatte er seine große Liebe gefunden und endlich geheiratet. Das mit der Liebe muss seine Frau anders gesehen haben, denn sie nutzte den ersten Krankenhausaufenthalt ihres Mannes, um sich von ihm nach nur wenigen Ehemonaten wieder zu trennen und den gemeinsamen Sohn zur Adoption frei zu geben. Der Dreijährige lebt jetzt bei einem Arztehepaar in Süddeutschland. Rüdiger hat Kontakt zu ihnen, doch seinen Sohn wird er nicht wieder bekommen. Wo sollte er ihn auch unterbringen, wie für ihn sorgen?
Ständig Schicksalsschläge
Es ist nicht das erste Mal, dass Rüdiger seine Familie verliert. Er hat schon viele Schicksalsschläge erlebt. Gebürtig aus Eckernförde, sieht er seine Eltern als Kind kaum. Vier bis fünfmal im Jahr, höchstens. Die Mutter arbeitet für einen Kosmetikkonzern und ist europaweit unterwegs, der Vater ist bei der Bahn. Rüdiger wächst bei seinen Großeltern auf einer einsamen Hallig auf. Als er zwanzig ist, verliert er beide Eltern durch einen Flugzeugabsturz. Zu seinen vier jüngeren Geschwistern verliert er ab dann vollständig den Kontakt. Sie kommen in Pflegefamilien, er sieht sie nie wieder. Viele Jahre später, als Erwachsener, versucht er, sie zu finden. Doch selbst mit Hilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes und einiger Fernsehsendungen gelingt ihm nur die Kontaktaufnahme zu seinem älteren Bruder. Der lebt aber heute auch nicht mehr, er hat Suizid begangen, nachdem ihn seine Frau mit den beiden Kindern verlassen hat.
Als Rüdiger dreißig Jahre alt ist, kann er nicht mehr arbeiten. Aufgrund einer As-bestbelastung bekommt er immer öfter Atemnot. Er hört mit seinem Beruf auf, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, lebt auf der Straße und zieht durch Deutschland. Mit Straßenmalerei kann er sich über Wasser halten. Wie es auf der Straße war? „Es gab gute Zeiten und schlechte Zeiten. Aber das meiste ist sehr negativ, weil wir in eine Schublade gepackt werden. Wir werden immer angesehen, als wenn wir alle Alkoholiker wären. Aber was da nun wirklich ist, das sehen die Menschen nicht.“ Das Leben auf der Straße war für ihn immer ein „Existenzkampf“. Wie Passanten auf Obdachlose reagieren, sagt Rüdiger, hängt ganz stark davon ab, ob man gewaschen ist, saubere Kleidung trägt und in welchem Ton man redet. Traurig findet er es, dass viele Übernachtungsstellen in den letzten Jahren aus Geldmangel geschlossen wurden und Wohnungslose in Behörden vielfach geringschätzig behandelt werden. „Wir haben keine Lobby und werden ständig abgeschoben.“
Mitte Dezember bezog Rüdiger in einer Notunterkunft der Stadt Würzburg. Tagsüber saß er in der Wärmestube, damit er nicht die leeren Wände seines Zimmers anstarren muss. An Weihnachten hatte er noch einmal richtig Pech gehabt. Ein Kumpel, mit dem er einige Wochen in der Kurzzeitübernachtung das Zimmer geteilt hatte und den er auf einen Weihnachtskaffee eingeladen hatte, hat in bestohlen. Alles Geld, seine Monatskarte, alle Ausweise - darunter auch die Befreiungsbescheinigung für Apotheken und Ärzte - sein Schlafsack und neue Winterstiefel, die er geschenkt bekommen hatte - alles weg. Zehn Kilo hat ihn dieser Stress gekostet. Der große Mann wiegt nur noch 49 Kilo. Sein Traum: Eine kleine Wohnung und einen Computer, um sein Leben aufzuschreiben. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Die Ärzte geben ihm nur noch wenige Jahre. Jetzt lebt Rüdiger M. auf dem Heimathof Simonshof in Bastheim.