„Europa ist die glücklichste Idee, die wir je hatten“, so lautete die Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen am vergangenen Donnerstag, 9.5.2019, zu einem gemeinsamen Appell der Präsidenten von 21 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die zur Europawahl im Mai 2019 auffordern. Sie setzen sich für „eine starke, handlungsfähige EU mit gemeinsamen Institutionen“ ein
Der ungewöhnliche Appell ist Ausdruck der Sorge angesichts der tiefgreifenden Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht: Erstmals seit Beginn der europäischen Integration wird diskutiert, einzelne oder mehrere Integrationsschritte wie die Freizügigkeit rückgängig zu machen oder gemeinsame Institutionen abzuschaffen. Zum ersten Mal hat ein Mitgliedstaat erklärt, die Union zu verlassen.
„Europa ist die glücklichste Idee, die wir je hatten“. Mit der europäischen Einigung hat sich eine jahrhundertelange Hoffnung auf Frieden in Europa erfüllt, nachdem ein entfesselter Nationalismus und andere extreme Ideologien Europa in die Barbarei zweier Weltkriege geführt hatten. Dieser Frieden, unsere Freiheit und der darauf basierende Wohlstand sind bis heute nicht selbstverständlich.
„Die Völker Europas haben sich aus freiem Willen in der Europäischen Union zusammengeschlossen. Sie gründet auf einem freien, gleichberechtigten, solidarischen, demokratischen, gerechten und loyalen Miteinander, wie es in der europäischen Geschichte ohne Beispiel ist“, schreiben die Präsidenten.
Die großen globalen Herausforderungen kann Europa nur gemeinsam lösen: Die Folgen von Terrorismus, Klimawandel, wirtschaftlicher Globalisierung und Migration machen nicht an nationalen Grenzen halt. Auch die Entwicklung hin zur wirtschaftlichen und sozialen Annäherung kann nur gemeinsam gestaltet werden. Deshalb darf es ein Zurück zu einem Europa, in dem die Staaten nicht mehr gleichberechtigte Partner, sondern Gegner sind, nicht geben, und es wäre unverantwortlich angesichts der immer konfliktreicheren Situation; wir brauchen nur an Amerika, Russland, China, Nordkorea, Türkei zu denken, aber auch an viele südamerikanische und afrikanische Staaten.
„Wer sich der Vergangenheit nicht bewusst ist, kann keine lebenswerte Zukunft gestalten. Wer kein gemeinsames Fundament hat, der kann auch kein schützendes Dach bauen!“ Deshalb ist es wichtig an den Beginn der europäischen Einigungsbemühungen zu erinnern nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege. Das Symbol für diese Bestreben um ein in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlergehen geeintes Europa ist die europäische Fahne.
Auch wenn manche Zeitgenossen es nicht wahrhaben wollen, dennoch ist der Kranz aus zwölf goldenen Sternen auf dem dunkelblauen Tusch die Folge eines Gelübdes. Die zwölf Sterne weisen nicht darauf hin, dass die Europäische Union einmal aus zwölf Staaten bestanden hat.
Die Geschichte der Fahne hat ihren Ursprung in der Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Paul Lévi, ein Belgier jüdischer Abstammung, sah damals angsterfüllt in Leuven zahlreiche Eisenbahnzüge fahren, in denen die Juden von der deutschen Gestapo nach Osten in eine ungewisse Zukunft transportiert wurden. Damals legte Lévi das Gelübde ab, wenn er den Krieg und die Nationalsozialisten lebend überstehen würde, wollte er zum katholischen Glauben konvertieren. Er überlebte und wurde katholisch. Am 5. Mai 1949 wurde in London der Europarat gegründet, und Paul Lévi wurde zum Leiter der Kulturabteilung des Europarats ernannt. Sechs Jahre später, 1955, diskutierten die Vertreter über eine gemeinsame Flagge. Sämtliche Entwürfe, in denen ein Kreuz enthalten war wie z.B. auf den skandinavischen Flaggen, wurde von den Sozialisten als ideologisch gebunden und zu christlich verworfen.
Eines Tages kam Lévi bei einem Spaziergang an einer Statue der Mutter Gottes mit dem Sternenkranz vorbei. Durch die Sonne beschienen, leuchteten die goldenen Sterne wunderschön vor dem strahlend blauen Himmel. Lévi suchte daraufhin Graf Benvenuti auf, einen venezianischen Christdemokraten und damaliger Generalsekretär des Europarats, und schlug ihm vor, zwölf goldene Sterne auf blauem Grund als Motiv für die Europafahne anzustreben. Benvenuti war begeistert, und wenig später wurde der Vorschlag allgemein akzeptiert. Und so ziert bis heute in allen Staaten der Europäischen Union der goldene Sternenkranz Marias die Europafahne.
Die Zwölfzahl der Sterne ist ein Hinweis auf die zwölf Stämme Israels und somit auf das auserwählte Volk Gottes. Der Kranz als Symbol des Erfolges und des Triumphes signalisiert die Unbesiegbarkeit der Frau. In der Offenbarung spricht Johannes nur von einer „Frau“, in der katholischen Auslegung wurde aber eine Zeitlang die Frau in der Offenbarung mit Maria gleichgesetzt.
Für die Zahl zwölf sind neben den Hinweis auf die Stämme Israels im Alten Testament noch die zwölf Apostel im Neuen Testament wichtig. Die Bedeutung der „Zwölf“ kann man auch darin sehen, dass zwölf das Produkt von drei und vier ist. Die Dreizahl steht für die Dreifaltigkeit Gottes in Vater, Sohn und Geist, und die Vier symbolisiert die Himmelsrichtungen. Zwölf steht damit auch für Vollkommenheit.
Die Flagge der Europäischen Union ist also nicht nur ein Symbol für die EU, sie steht im weiteren Sinne auch für die Einheit und Identität Europas. Im Wissen um den geschichtlichen Hintergrund der Bemühungen um ein geeintes Europa sowie ihres Symbols, den zwölf goldenen Sternen auf dunkelblauem Untergrund, wird deutlich, dass es ein grundlegender Fehler war, beim europäischen Einigungsvertrag darauf zu verzichten, das religiöse Fundament zu benennen.
Deshalb möchte ich daran erinnern, dass die Vertreter der zuvor verfeindeten Nationen, die sich im Krieg mit allen Mitteln bekämpften und jetzt zu einer Einigung im Blick auf eine friedvolle Zukunft kamen, dies aus ihrer christlichen Überzeugung taten. Die treibenden Kräfte, insbesondere Robert Schumann und Konrad Adenauer, waren praktizierende Katholiken.
Europa ist weit mehr als nur ein Wirtschaftraum oder ein militärisch geschützter Kontinent. Europa ist Lebensraum, d.h. es geht um den Schutz menschlichen Lebens schon vor der Geburt bis zu seinem natürlichen von Gott verfügten Sterben und um den Schutz der uns anvertrauten Schöpfung, der natürlichen Umwelt. Es geht um den Wert und die Würde jedes einzelnen Menschen, seine Bildung und Befähigung zur Selbstsorge wie auch zur Solidarität und damit auch um soziale Gerechtigkeit. Das alles entspringt keiner Ideologie, sondern der Lebensbotschaft Gottes, die immer im Widerstreit mit eigensüchtigen Interessen einzelner Menschen wie Gruppen lag.
Als biblische Botschaft haben wir der aus dem letzten Buch der Bibel, der Geheimen Offenbarung des Johannes, eine Kostprobe des Ringens um eine verheißungsvolle Zukunft gehört. Die Offenbarung des Johannes ist das einzige prophetische Buch des Neuen Testaments und zugleich eine Trost- und Hoffnungsschrift für die im Römischen Reich unterdrückten Christen. Der als biblische Botschaft vorgetragene Abschnitt ist überschrieben: „Der Kampf des Satans gegen das Volk Gottes“.
Im Blick auf die jetzt immer wieder – auch von den 21 Präsidenten – betonte entscheidende Bedeutung der bevorstehenden Europawahl darf es nicht nur um eine handlungsfähige Mehrheit im Europaparlament und die Abwehr radikaler Kräfte gehen, auch nicht nur um die Zusammensetzung der Europäischen Kommission, es muss ebenso ein Signal gesetzt werden für die Bedeutung des geistigen und geistlichen Fundaments, auf dem das Miteinander sich entfalten und einer guten Zukunft entgegengehen kann.
„Wer sich der Vergangenheit nicht bewusst ist, kann keine lebenswerte Zukunft gestalten. Wer kein gemeinsames Fundament hat, der kann auch kein schützendes Dach bauen!“ Damit habe ich einen klugen Beobachter der Entwicklungen unserer Tage zitiert. Dass sich hier jetzt Menschen zum vertrauensvollen Gebet und dann auch zum Austausch und Gespräch über die politische Situation unserer Tage versammelt haben, ist für mich ein Signal, das Kreise ziehen sollte, denn es genügt fürwahr nicht, das „C“ nur im Namen zu tragen. Es braucht auch die geistige Verbindung zur Gemeinschaft der Menschen, die ihren Lebensweg aus dem Glauben an den menschgewordenen Gott leben und aus dem Geist seiner Frohen Botschaft handeln und auch Verantwortung übernehmen – in einer Zeit, in der ein Mensch, der sich als Christ bekennt, schnell Gespött kabarettistischer Kapriolen ist und auch bei Redakteuren verschiedener Medien eher kritisch gesehen wird.
„Europa ist die glücklichste Idee, die wir je hatten“, so lautete die Überschrift in der F.A.Z. Hinter dieser Idee steht aber eine vorausgegangene schmerzliche Geschichte. Dahinter steht die Überzeugung der Gründer der europäischen Initiative und es steht die Erkenntnis, dass ein gemeinsames Dach ein solides Fundament braucht, das die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit trägt und ihr Miteinander sowie ihre solidarische Sorge umeinander schützt und stützt.
Ob die Generationen nach uns auch noch sagen werden „Europa ist die glücklichste Idee, die wir je hatten“, hängt von unserem beherzten und glaubwürdigen Einsatz heute ab.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de