Die Predigt im Wortlaut:
Zwischen den drei Gottesdiensten, die ich am Heiligen Abend gefeiert habe, war ich zu Gast bei der Familie meines Neffen und seiner Frau. Es ist einfach ein schönes Erlebnis, die leuchtenden Kinderaugen zu sehen! Georg, der mit seinen neun Jahren auf der Trompete spielte, und Helena mit acht Jahren auf ihrer Geige.
Sicher ist nicht jede Situation im Zusammenleben einer Familie so entspannt und harmonisch, aber das erste überwältigende Gefühl, das Eltern empfinden, wenn sie ihr gerade entbundenes Kind im Arm halten, wird sich immer wieder bemerkbar machen. „Die Geburt eines Kindes ist wie Weihnachten,“ sagte eine Mutter. „Es ist ein Wunder, was sich an Leben in dem kleinen Kind verbirgt!“
So fühlen Eltern, auch wenn sie genau wissen, dass es im Laufe der Jahre immer wieder sorgenvolle Momente geben wird. Aber weil die Eltern ihr Kind, ihre Kinder, nicht auf allen Wegen und für immer begleiten und umsorgen können, kommt es entscheidend darauf an, in ihnen von klein auf das Vertrauen in Gott und damit auch ins Leben grundzulegen. Dieses Urvertrauen kann einen Menschen ein Leben lang begleiten und tragen. Weil ich mich selbst von Gottes guten Händen umgeben weiß, gewinne ich an Selbstvertrauen und kann zugleich vertrauen in die Mitmenschen, in das Gemeinwesen sowie in die Institutionen, die unser Miteinander begleiten. Das Vertrauen in unser eigenes Leben und ins Zusammenleben zu schaffen, beginnt bei den Kindern. Deswegen darf die Bedeutung der eigenen Familie nicht vernachlässigt werden.
Grundsätzlich ist es gut, dass das Thema Familie zunehmend an Bedeutung gewinnt, wobei allerdings hier und jetzt nicht der Ort ist, um die vielfältig denkbaren Familienformen zu bedenken, die Gegenstand der aktuellen gesellschaftspolitischer Diskussionen sind, und die demnächst rechtlich gleichgestellt werden sollen.
Kinder brauchen vor allem eine natürliche Umgebung. In allen Lebensbereichen wird der Bezug zu den natürlichen Grundlagen betont. Das sollte auch für Kinder gelten. Sicherlich braucht es für einzelne Kinder, deren Eltern überfordert sind, eine Unterstützung oder gar eine organisierte Betreuung und Begleitung; die allermeisten Kinder aber können auf die Zuneigung und Fürsorge ihrer eigenen Eltern bauen. Diese Prägung ist wesentlich, denn für Kinder ist Bindung und emotionale Geborgenheit vorrangig vor aller staatlich organisierten Betreuung und Bildung. Ein Kind braucht das Gespür eines starken Rückhalts. Es braucht Vertrauen zu sich selbst, zu den Menschen, die ihm nahe sind, ebenso in die Zukunft. Es braucht Orientierung und Werte, an denen es sich ausrichten kann. Es braucht bleibend gültige Wertmaßstäbe, die helfen, sich selbst und das Miteinander mit den Menschen um sich herum gut und friedvoll zu leben.
Kürzlich habe ich eine Deutung bzw. Interpretation der Heiligen Familie als „erste postmoderne Familie“ gelesen. Jesus selbst würde demnach die eigenen Familienbindungen relativieren und die geistige Verwandtschaft betonen. Damit bin ich beim heutigen Evangelium: Jesus, der mit seinen Eltern die Wallfahrt nach Jerusalem unternimmt. Damit wird zunächst einmal festgehalten, dass in der Familie von Josef, Maria und Jesus der Glaube praktiziert wird. Die Eltern gehen mit ihrem Kind den Weg des Glaubens. Sie wecken und vertiefen den Glauben und das Vertrauen in Gott.
Dass sie ihn letztlich nicht bei Verwandten und Bekannten finden, sondern im Tempel, wo der Heranwachsende Antworten auf seine Fragen suchte, macht deutlich, dass für ihn die Botschaft des Glaubens eine wichtige Orientierung beinhaltet. Seine Antwort an seine Eltern zeigt, dass er sich bei Gott geborgen weiß.
Wenn ein Kind als junger Erwachsener mehr und mehr in eigener Verantwortung seinen Weg geht, dann wird es für die Eltern wichtig sein zu wissen, dass dies ein Weg mit Gott und mit Vertrauen auf SEINE Lebensbotschaft ist.
Ich würde mir, nein besser, ich würde den Kindern und Heranwachsenden wünschen, dass wir in Politik und Gesellschaft weniger über die Freigabe von Cannabis und anderen sogenannten Party-Drogen diskutieren, sondern viel mehr darüber, wie wir das Vertrauen ins Leben in den jungen Menschen verstärken können. Dazu ist es wichtig, die Familie zu stärken und ihre Möglichkeiten, die ihnen anvertrauten Kinder verantwortungsbewusst zum Leben vorzubereiten und zu befähigen.
Weil das Leben nicht perfekt ist, kann auch die Familie nicht perfekt sein. Aber in der Familie kann der gelingende Umgang mit dem Leben eingeübt werden. Familie als die kleinste Zelle menschlicher Gesellschaft steht gleichermaßen für Hoffnungen und Ängste, sie steht für das Streben und Verlangen nach Glück ebenso wie für die Erfahrung von Leid, Enttäuschung, Verletzung und Scheitern, wie auch für Verzeihung und Vergebung. In diesem Spannungsfeld werden in der Familie die entscheidenden Erfahrungen von Liebe und Angenommensein, von Vertrauen, Verlässlichkeit, Geborgenheit und Sicherheit grundgelegt.
Obwohl inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Umfragen belegen, dass viele Menschen sich nach der Geborgenheit einer Familie sehnen, sind die Ehe von Mann und Frau und die daraus erwachsende Familie mittlerweile zu einem Lebensmodell neben anderen geworden. Bemerkenswert ist, dass der Großteil der Bevölkerung die verschiedenen Lebens- bzw. Familienmodelle als gleich gültig anerkennt, dass aber weit über 90 Prozent für sich selbst die natürliche Beziehung von Mann und Frau als passend bewerten.
In der Gleich-gültig-keit der verschiedenen Lebensmodelle nehme ich eine große Diskrepanz wahr. Einerseits scheint es vielfach vor allem und bei allem ein „Recht auf ...“ zu geben. Vor vierzig Jahren war die Rede vom „Recht auf den eigenen Bauch“. Sie erinnern sich an das Schlagwort „Mein Bauch gehört mir!“ Heute geht es um das „Recht auf ein Kind“ in jeglicher Konstellation. Vorrang hat das „Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“.
„Wer kann und soll die Rechte einlösen? Gibt es ein Recht darauf, dass ich geliebt und bejaht, akzeptiert und getragen werde? Wer ist verantwortlich dafür, wenn ich im Stich gelassen werde? Wer übernimmt Verantwortung und Sorge für die Schwächen und Defizite von Kindern und Erwachsenen?“, schrieb der österreichische Bischof Manfred Scheuer.
Die Familie macht, so Papst Franziskus, derzeit eine tiefe kulturelle Krise durch – wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen. Der postmoderne Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Natur der Familienbande zerstört. „Auch wenn die Menschheit heute die Notwendigkeit eingesehen hat, auf die Bedrohung für unsere natürliche Umwelt zu reagieren, sind wir langsam dabei, zu begreifen, dass auch unsere soziale Umwelt in Gefahr ist. Deswegen müssen wir eine neue ‚Ökologie des Menschen‘ fördern und voranbringen“, sagte Papst Franziskus vor einiger Zeit.
Gerade in der Zeit der Corona-Pandemie haben wir vielfach gespürt, wie wichtig der Rückhalt durch die Familie und die Geborgenheit in der Familie ist, und wie schlimm es ist, wenn Familien getrennt werden durch Betretungsverbote in Heimen für Menschen mit Behinderungen oder Alte oder in Krankenhäusern. Bei aller gebotenen Vorsicht darf „Vater Staat“ letztlich nicht die Hoheit über die Familien erlangen, das beginnt mit der Frage der Betreuung von Kindern bis hin zu der Sorge um alte Menschen. Im Gegenteil gilt es die Familien zu unterstützen, zu befähigen und zu stärken, damit sie die Sorge umeinander wahrnehmen können. Die Geschichte lehrt uns, wie grausam es ist, wenn Familien auseinandergerissen werden! Für autoritäre Staaten war das stets eine Möglichkeit Druck auszuüben.
Das Leben der „Heiligen Familie“ zeigt, dass Gott dort ist, wo Menschen in Gefahr sind, wo sie leiden, flüchten, Ablehnung und Verlassenheit erfahren, wo sie den Alltag miteinander leben, voneinander Abschied nehmen oder wo Eltern und Kinder sich nicht mehr verstehen. Gott ist gerade auch dort, wo sie sich nicht im Stich lassen, wo Menschen hoffen und träumen, wo sie für das eigene Leben und die Würde ihrer selbst sowie für die Familienangehörigen Pläne schmieden und Entscheidungen treffen. Und Gott ist auch dort, wo Beziehungen zerbrechen. Die Beziehung zu Gott, so Papst Franziskus, „fördert eine Communio, die die zwischenmenschlichen Bindungen heilt, begünstigt und stärkt.“
Vor Jahren erschien das Buch des bekannten Tübinger Religionspädagogen Professor Albert Biesinger unter dem bemerkenswerten Titel „Kinder nicht um Gott betrügen“. Das Wichtigste, das wir Kindern auf ihrem Weg ins Leben mitgeben können, ist das Vertrauen in Gott und von daher das Vertrauen ins Leben. Doch diese Botschaft und die Erfahrung im Umgang mit Gott sowie die Einübung in eine religiöse Praxis, die dem Leben Ordnung, Rhythmus und Halt und immer wieder Mut und Kraft zum neuem Anfang gibt, haben in zunehmend mehr Familien keinen Platz mehr.
Es braucht um der Menschen willen wieder mehr heilende Familienerfahrungen, die aus dem Miteinander von Kindern und Eltern oder auch von Großeltern erwachsen und immer weniger auf die Unterstützung von Familienberatern und Psychologen angewiesen sind. Dann wird nicht nur der Heilige Abend und Weihnachten zu einer heilsamen, wohltuenden und das Herz berührenden Erfahrung, weil in den leuchtenden Augen das Vertrauen ins Leben und somit das Strahlen Gottes zu sehen ist, mit dem ER unsere Welt heller und menschlicher macht. In diesem Sinne durfte ich heuer den Heiligen Abend erleben. Ich wünsche Ihnen das ganz Jahr über solch hoffnungsvolle Augenblicke, die Sie zum Leben ermutigen – nicht nur in der Weihnachtszeit.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Miteinander wohnen
so heißt der Text des Schweitzer Theologen Pierre Stutz,
den er in Anlehnung an den Psalm 133 formuliert hat:
Freundschaft leben
einen Ort zu haben
wo ich loslassen darf
sein mit meinen dunklen Seiten
meinem Bedürfnis nach Angenommensein
Freundschaft leben
kein Bild voneinander machen
Entfaltungsmöglichkeiten bestärken
im Spiel der Zuwendung
Seht doch,
wie gut und schön es ist,
wenn Menschen miteinander in Eintracht
wohnen
Pierre Stutz