Die Predigt im Wortlaut:
„Staat ohne Gott“, so der Titel eines Buches von Horst Dreier – bis vor zwei Jahren Professor für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Uni Würzburg.
„Staat ohne Gott“ – unter dieser Überschrift hat das Sonntagsblatt in seiner Ausgabe vor einer Woche ein Interview mit Professor Dreier abgedruckt. Darin stellt der Jurist die These auf, dass sowohl in einigen skandinavischen Ländern wie auch in den neuen Bundesländern der Anteil von religiös gebundenen Menschen extrem niedrig sei. Dennoch sei dort keine Anarchie ausgebrochen.
„Staat ohne Gott“ – Professor Dreier, der vor wenigen Jahren sogar Präsident des Bundesverfassungsgerichts werden sollte, verweist auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, bezweifelt eine transzendente Letztinstanz und ist überzeugt, dass eine tragfähige Moral auch ohne Transzendenz auskommt.
„Staat ohne Gott“ – für Horst Dreier hat der Gottesbezug in der deutschen Verfassung eine äußerst geringe regulatorische Wirkung, allenfalls eine symbolische.
„Staat ohne Gott“ – ganz anders äußerte sich Ernst-Wolfgang Böckenförde, ebenfalls Rechtsphilosoph. Er sagte mitten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Darauf antwortet Professor Dreier jetzt mit dem Verweis, dass es immer weniger Christen in Deutschland gibt, und deshalb auch andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Ethikräten, Selbstverwaltungsorganen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks usw. vertreten sein sollten.
Wesentlich weiter erscheint mir dagegen der Horizont von Papst Benedikt, der am 22.9.2011 vor dem Deutschen Bundestag sprach. In dieser Rede betonte er, dass die Kultur Europas aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom, also aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden sei. Vor diesem Hintergrund haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes, von denen die meisten eine humanistische Bildung hatten, formuliert: „In der Verantwortung vor Gott und den Menschen“.
Konsequenterweise formulierte Papst Benedikt in der ersten Enzyklika nach seiner Wahl, also in „Deus caritas est“, den direkten Bezug zum einzelnen Menschen. Für den Einzelnen bleiben und unmittelbare Nächstenliebe und Caritas immer notwendig, denn auch in der gerechtesten Gesellschaft werde es materielle und menschliche Not geben. Der Papst stellte sehr zurecht fest, dass die Lösung nicht im Versorgungsstaat liege, der bürokratisch alles an sich reißt. Der leidende Mensch brauche persönliche Zuwendung. Und Benedikt betonte eigens, dass zum spezifischen Profil kirchlicher Hilfstätigkeit die individuelle menschliche Zuwendung gehöre, die über berufliche Kompetenz und technisch korrekte Behandlung hinausgeht.
Ganz bewusst möchte ich nun unseren Blick zurücklenken auf die Zeit, in der die Sebastianus-Bruderschaft hier in Bürgstadt entstand. Die Kirche und ihre Glaubensverkündigung standen damals in starker Kritik. Die Versuche, die seelsorgliche Praxis zu reformieren, griffen nicht mehr. Umso mehr entstanden religiöse Volksbewegungen. Bei aller Kritik am Papst und teilweise dem Pfarrer vor Ort, gab es dennoch ein zunehmendes Interesse am Glauben und der Glaubensbotschaft. Das wiederum hing auch mit den großen Verunsicherungen und Nöten der Zeit – insbesondere den Gefahren für Leib und Leben – durch Pest und Seuchen zusammen.
Hier erwiesen sich die entstandenen Bruderschaften nicht nur als betende und bittende Gemeinschaften, sondern auch als sehr konkrete Helfer etwa in der Pflege von Alten und Kranken sowie bei weiteren sozialen Problemen bis hin zur Sorge um eine würdige Bestattung der Verstorbenen.
Das Fest der Sebastianus-Bruderschaft bedeutet also nicht Vergangenheit zu feiern, sondern mitten in den aktuellen Herausforderungen zu feiern, dass wir aus unserem Glauben Zuversicht haben dürfen. Genau das ist die Botschaft Jesu am heutigen Tag an uns: „Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. … Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.“
Entgegen dem Buchtitel „Staat ohne Gott“ können wir uns aus dem Vertrauen, dass Gott uns in allem trägt und hält, zu IHM bekennen, auch wenn uns dafür als Christen in allen Zeiten Pfeile der Ablehnung und sogar des Hasses treffen. Diese Pfeile zeigen sich in den immer weiter um sich greifenden Schändungen und im Vandalismus gegenüber kirchlichen, sakralen Symbolen und Gebäuden, im Verletzen religiöser Gefühle etwa mit „Heidenspaß-Partys“ an Tagen wie am Karfreitag oder drücken sich aus in teilweise gehässigen Äußerungen bei irgendwelchen kabarettistischen Kultsendungen. Es geht so weit, dass im vergangenen Jahr weltweit 5 621 Christen wegen ihres Glaubens ermordet wurden.
In verschiedenen Pressemeldungen war dieser Tage zu lesen: „Christenverfolgung hat ‚alarmierend zugenommen‘“, „Schwere Zeiten für 360 Millionen Christen: Verfolgung stark gestiegen“.
Dennoch ist die Botschaft des Sebastianusfestes, wie es in der Lesung aus dem ersten Petrusbrief hieß: „Wenn ihr um der Gerechtigkeit willen leiden müsst, seid ihr selig zu preisen. Fürchtet euch nicht vor ihnen, und lasst euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt …“
„Staat ohne Gott“ – der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler spricht von „nervösen Zeiten“, in denen wir leben. Angesichts der Unruhen, des Unfriedens und der materiellen Unsicherheiten wäre es das Gebot der Stunde, in den Menschen Hoffnung und Zuversicht zu bestärken. Doch viele Kinder erleben keine religiöse Praxis und damit keinerlei religiöse Erziehung mehr. Wir reduzieren den Religionsunterricht, Herzensbildung wird massiv von kognitiver Bildung überlagert, die Bedeutung von Glaubensfesten verschwindet hinter dem Hinweis auf die Notwendigkeit arbeitsfreier Tage.
Kürzlich las ich in der WELT: „Die Deutschen am Ende der Gewissheiten“. „Eine Krise reiht sich … an die Nächste, selbst für die Dickfelligen ist es arg gekommen. Alte Gewissheiten haben sich aufgelöst.“ Neue, so möchte ich ergänzen, haben sich noch nicht gefunden.
„Staat ohne Gott“ – dazu sei noch ein anderes deutliches Beispiel erwähnt: Das Treffen der G-7-Außenminister aus Anlass der Beratungen über den Ukraine-Krieg fand am 3. und 4. November im Ratssaal der Stadt Münster statt. Der historische Saal wird auch Friedenssaal genannt, weil dort der „Westfälische Friedensvertrag“ verhandelt und geschlossen wurde. Dadurch fand der Dreißigjährige Krieg sein Ende. Doch vor der Außenministertagung ließ das deutsche Außenministerium das Friedenskreuz, das seit 1540 dort hängt, abhängen.
„Staat ohne Gott“ – davon würde ich auch sprechen wollen im Blick auf die Bewertung und den Schutz des menschlichen Lebens an seinem Anfang wie auch an seinem Ende. Familienministerin Paus hat kurz nach Weihnachten angekündigt, den § 218 StGB, der die Abtreibung regelt, zu streichen. Das hätte zur Folge, dass nicht einmal mehr zur Beratung angehalten wird, also über den Wert und die Bedeutung eines Kindes nachzudenken.
Wer gibt den Maßstab vor, im Blick auf die Veränderungen bei der Beurteilung ethischer und moralischer Fragen? Da geht es nicht nur darum, staatlicherseits die Essenpläne für Kantinen, Schulen und Kitas zu organisieren. Die menschliche Existenz wird mehr und mehr vom Menschen selbst definiert. Schon Kindern und Jugendlichen soll auch ohne Einverständnis der Eltern möglich sein, ihre Geschlechtsidentität festzuschreiben. Aktive Sterbehilfe soll nicht nur im Blick auf das Alter und die Schwere einer Erkrankung angedacht werden dürfen. Selbst ein junger, kerngesunder Mensch soll die Sterbehilfe – etwa aus Liebeskummer – für sich einfordern können.
„Staat ohne Gott“ – reicht das Mehrheitsprinzip oder gar die Meinungsmache, durch diejenigen, die sich am besten ins Szene setzen und Gehör verschaffen? Sollen sie feststellen können, was menschlich, was gerechtfertigt, was gut ist? Wir beklagen die Angriffe auf Sicherheits- und Rettungsdienste; das kommt aber nicht über Nacht, sondern ist Ausdruck einer schleichend veränderten Haltung. Ebenso sind die hasserfüllten Krawalle in der Silvesternacht wie auch die täglichen Meldungen von Gewalt und Mord selbst in Familien Zeichen dieser Veränderungen.
Und wenn wir heute den Fachkräftemangel beklagen, dann ist das kein Problem der Politik, sondern Folge und Auswirkung einer Haltung bei vielen Menschen, die sich vor Jahrzehnten entschlossen haben, ihr Leben zu leben und deshalb auf Kinder zu verzichten.
Wollen wir wirklich einen „Staat ohne Gott“?
Deshalb sollten wir uns den Geist der Christen wünschen, die über 500 Jahren die Sebastianus-Bruderschaft gründeten. Während die Gremien in der verfassten Kirche Strukturen und Strategien entwickeln und Pläne machen, wie kirchliches Leben organisiert werden könnte, sollten wir daran gehen, den Glauben zu vertiefen und daraus eine Glaubenspraxis zu entfalten, die unser Leben durchdringt.
Insofern finde ich eine aktuelle Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft höchst interessant. Darin wird u.a. festgestellt: „Internationale Studien zeigen für 24 untersuchte Länder (u.a. USA, Japan, Neuseeland oder Niederlande), dass der regelmäßige Gottesdienstbesuch das subjektive Wohlbefinden steigert.“ Weiterhin heißt es in der Studie: „Untersuchungen aus den USA zeigen außerdem, dass Kirchgänger … sich häufiger ehrenamtlich in Vereinen und anderen sozialen Gemeinschaften engagieren.“
Zusammenfassend sagt der Verhaltensökonom des IW Dominik Enste: „… Wo Menschen zusammenkommen und feiern, steigt auch das Glück … Gerade in Krisenzeiten bietet das den Menschen Zuflucht und Zusammenhalt.“
„Staat ohne Gott“ – „Nein!“, sage ich, denn unsere Überlegungen machen deutlich: „Ohne Gott ist kein Staat zu machen!“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Menschen,
die aus der Hoffnung leben,
sehen weiter.
Menschen,
die aus der Liebe leben,
sehen tiefer.
Menschen,
die aus dem Glauben leben,
sehen ALLES
in einem anderen Licht.
(Lothar Zenetti)