Die Predigt im Wortlaut:
Als „Empörungsgesellschaft“ beschrieb kürzlich ein Kommentator in einer großen deutschen Tageszeitung einen Teil unseres Volkes. Angst sei ein Teil der Machenschaft, um Menschen anzustacheln und aufzuwiegeln. Das ist aber keineswegs nur ein deutsches Phänomen, denn es ist ebenso in anderen Ländern virulent: England in der Diskussion um den Brexit, Frankreich mit den Gelbwesten-Protesten oder Länder im Osten Europas mit fremdenfeindlichen Parolen sind Beispiele dafür. Wir beobachten dies in vielen weiteren Staaten rund um den Erdball. In einigen Ländern gibt es sogar staatlich organisierte Büros, die falsche Behauptungen und Meldungen verbreiten, um Menschen oder Gruppen zu diskreditieren.
Sogenannte soziale Medien bieten vielfältige Möglichkeit, unsachliche Anschuldigungen und Diffamierungen in kürzester Zeit zu verbreiten und die Gesellschaft zu vielen Themen in Empörung zu versetzen. Der Kommentator sprach vom modernen Pranger des 21. Jahrhunderts, den es in und für alle gesellschaftlichen Schichten gäbe.
Die velfach unsachlichen, nicht selten emotionalen, teilweise beleidigenden und diffamierenden Kommentare zu einzelnen Berichten auf der Homepage von Zeitungen sind dafür ein beredtes Beispiel. Oder ob es sich um das eigens eingerichtete Medienportal einer Partei handelt, um darüber Lehrer zu diskreditieren, oder ob es um den komischen Kollegen oder Nachbarn geht bis hin zu blanken Vermutungen über sogenannte Ausländer bei irgendwelchen Vorkommnissen. Schnell ist ein Verdacht in die Welt gesetzt und verbreitet.
Dieses sehr bedenkliche Verhalten gab und gibt es in allen Zeiten – ob zur Zeit Jesu, wie das heutige Evangelium berichtet, oder denken Sie an die Hexenjagd bis hinein in unsere Tage, wo immer wieder Menschen sogar unschuldig verurteilt wurden und werden. Das Phänomen, andere an den Pranger zu stellen, gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten, auch in der Kirche. So ging vor einigen Tagen durch den Blätterwald der Presse wie auch durch Funk und Fernsehen die Meldung, dass alle Mitarbeiterinnen der vatikanischen Frauenzeitschrift aus Protest gegen den Papst und sein angeblich verengtes Frauenbild zurückgetreten seien. Gestern nun kam beiläufig die Nachricht, dass viele der Mitarbeiterinnen „absolut wütend“ gewesen seien über ihre Ex-Chefin und deren falsche Angaben, schließlich arbeiten viele Frauen weiterhin in der Redaktion mit.
Ein leider schon verstorbener Jesuit, der Philosophieprofessor in München war, sagte vor Jahren, das größte Problem unserer Zeit – von der Partnerschaft über die Familie bis in die gesamte Gesellschaft hinein – sei die um sich greifende Unbarmherzigkeit.
In der Tat werden etwa in den modernen, sogenannten sozialen Medien ganz oft Menschen an den Pranger gestellt, aber nur äußerst selten wird dort einem Menschen, selbst wenn er Fehler gemacht hat, eine Brücke gebaut.
Im Beichtspiegel meiner Kindheit, damals im alten „Ave Maria“, hieß es bei den Fragen zur Gewissenserforschung: „Habe ich wahre Fehler eines anderen ohne Not weitergesagt …“
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es soll nichts unter den Teppich gekehrt werden! Aber als Christen werden wir daran gemessen, wie wir mit eigenen Fehlern und den Fehlern anderer umgehen, ob dadurch Menschen Einsicht gewinnen und einen Neuanfang finden können. Deshalb möchte ich den Gedanken des schon erwähnten Jesuitenpaters aufgreifen und sagen: Was unserer Zeit am meisten Not tut, ist Barmherzigkeit.
Wache Geister in Europa weisen auf die Notwendigkeit hin, dass es für das Zusammenleben der Menschen eine geistig-moralische, eine ethische Grundlage braucht. Das Erfordernis hierfür wird gerade an der nicht selten bedenklichen Wirkung der sozialen Medien deutlich. Ich will nur drei aktuelle Beispiele nennen:
- Von einem Großteil der Bevölkerung wird begrüßt, wenn Schülerinnen und Schüler im konkreten Fall selbst ihre Schulpflicht definieren, somit darüber verfügen und es als geboten ansehen, stattdessen zu demonstrieren. Wer fragt, ob dies richtig sei, auch wenn der Anlass dafür noch so unterstützenswert erscheint, wird öffentlich angegriffen.
- Sehr verwunderlich ist, in welchen Fällen die Medien ihre zurückhaltende Berichterstattung mit dem Schutz von Persönlichkeitsrechten begründen und in welchen Fällen sofort Namen preisgegeben werden, ohne dass es ein rechtskräftiges Urteil gibt.
- Ganz bunt wird schließlich der Reigen der Beobachtungen, wenn ich lese, dass der US-Präsident jetzt ein Essen mit Pressevertretern absagte. Er bezeichnet sie als „Volksfeinde“, wohl deshalb, weil sie ihn und sein Aggieren kritisch hinterfragen.
Diese Beispiele sollen genügen, dass dies nicht mit dem Hinweis auf „Fake-News“ erklärt werden kann. Dahinter verbirgt sich eine grundlegend fragwürdige Haltung.
Im besorgniserregenden Umgang von Menschen untereinander – denken wir an die zunehmende Gewalt bis hinein in Familien an, egoistisches Ausnutzen von Solidarität oder rücksichtloses Verhalten im Straßenverkehr – versuchen wir allenfalls Symptome zu kurieren etwa durch gesetzliche Regelungen. Doch es wäre viel wichtiger zu fragen, was in den zurückliegenden Jahrzehnten versäumt wurde, um dem vorzubeugen, weil z. B. eine an christlichen Werten orientierte Erziehung verpönt war und noch ist. Wie oft war der Satz zu hören: „Mein Kind soll selbst entscheiden …“ anstatt Grundhaltungen zu vermitteln und zu prägen, wie sie sich vielen von uns in Kindertagen einprägte: „Was Du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu!“, was von der „Goldenen Regel“ Jesu abgeleitet ist: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“
Von daher passt das Leitwort des diesjährigen MISEREOR-Sonntags: „Mach was draus: Sei Zukunft!“ Es reicht bei weitem nicht, eine Gesellschaft, einen Staat, die Europäische Union oder die Weltgemeinschaft nur auf wirtschaftliche Vereinbarungen abzustellen, weil es auch für das Leben von Menschen weit mehr braucht als Geld und Konsum. Es braucht vor allem Barmherzigkeit und von daher dann eine Haltung, die dem Leben dient und zum Leben verhilft und aus der heraus wir mitwirken bei der Gestaltung der Welt.
Damit sind wir beim Evangelium des fünften Fastensonntags: Jesus macht an seinem Umgang mit der Frau, die des Ehebruchs bezichtigt wird, deutlich, dass kein Mensch frei von Fehlern ist, und dass jeder auf Entgegenkommen und Erbarmen angewiesen ist. Er bagatellisiert keineswegs den Fehler der Frau, er heißt ihn nicht gut, aber er baut ihr eine Brücke, damit sie aus dieser für sie schwierigen und leidvollen Erfahrung lernen und weiterkommen kann auf ihrem Weg durchs Leben.
Eine Theologin sprach im Blick auf diese Stelle vom „Zusammenprall zwischen Gesetz und Barmherzigkeit“. Doch das ist typisch für Jesus wie z.B. beim barmherzigen Vater, dem Evangelium des vergangenen Sonntags, oder wie bei der Begegnung mit Zachäus, der vom Baum steigt und ein neues Leben beginnt. Immer wieder wird deutlich: Der Menschensohn kam, um Sünder zu retten.
Zum Leben gehört nicht nur das Gesetz, das Mitschwimmen im Strom der Selbstbewussten, Selbstzufriedenen und Selbstgerechten, sondern vor allem und bei allem Barmherzigkeit. Nach Recht und Gesetz der damaligen Zeit war die Forderung der Pharisäer rein sachlich in Ordnung, aber sie war nicht lebensdienlich.
Jesus lehrte im Tempel, dem Ort der Gegenwart Gottes. Dort schrieb er auf die Erde, also den Boden, auf dem wir stehen, und damit uns grundsätzlich ins Stammbuch, auf SEIN Verhalten zu achten. „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“
Schon im 13. Jahrhundert hat der große Theologe Thomas von Aquin entgegen der Auffassung, das Prinzip der Gerechtigkeit allein könne die Welt gestalten, betont: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.“ Wer den Versuch unternimmt, Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen ohne sie mit Entgegenkommen und Erbarmen zu verbinden, wird scheitern. Ein solches Unternehmen endet letztlich in Unmenschlichkeit, in Blut und Tränen – wie die Welt immer wieder leidvoll erfahren musste und erfährt. Wer nur Gerechtigkeit will, schafft keinen Frieden; er zerstört am Ende Menschen und Welt. Das Prinzip der Gerechtigkeit ist ohne Entgegenkommen und Barmherzigkeit nicht durchzuhalten. Das will Jesus uns klarmachen.
Die Konsequenzen, die wir daraus ziehen sollten, sind:
- Wo Gott ankommt bei den Menschen, wo seine Botschaft angenommen und im Miteinander umgesetzt wird, erhält das Leben eine neue, eine bessere Qualität. Da gelingt Menschen auch nach Fehlern ein neuer Anfang und damit eine gute Zukunft.
- Im Blick auf die Erziehung von Kindern gilt: Wenn Menschen nicht nur Sach- und Fachwissen erhalten, sondern vor allem Herzensbildung, geht die Welt einer lebenswerten Zukunft entgegen, da braucht kein Mensch um sein Leben zu fürchten.
- Im Blick auf das Gemeinwesen bedeutet das: Wo menschliche Ordnungen, wo wirtschaftliche Notwendigkeiten, wo Recht und Gesetz gepaart sind mit Entgegenkommen und Barmherzigkeit, da kann Leben und Zusammenleben gelingen.
Eine immer lautere „Empörungsgesellschaft“ wird die Herausforderungen der Welt und unseres Lebens nicht meistern. Wenn aber Entgegenkommen und Barmherzigkeit und von daher Liebe und Zuversicht unter uns wachsen, wird das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft gelingen!
Text zur Besinnung
Wir heute
Es ist sicher,
dass wir schneller fahren,
höher fliegen und weiter sehen können
als Menschen früherer Zeiten.
Es ist sicher,
dass wir mehr abrufbares Wissen
zur Verfügung haben
als jemals Menschen vor uns.
Es ist sicher,
dass Gott sein Wort noch niemals
zu einer besser genährten, gekleideten
und besser gestellten Gemeinde gesprochen hat.
Nicht sicher ist,
wie wir bestehen werden vor seinem Blick.
Vielleicht haben wir
mehr Barmherzigkeit nötig
als alle, die vor uns waren.
Lothar Zenetti
Clemens Bieber