Die Predigt im Wortlaut:
Europa steht auf dem Spiel! Mit hektischen diplomatischen Bemühungen versuchen derzeit einige Regierungschefs der Länder, die zur Europäischen Union gehören, die EU zu stabilisieren und ihr Gebiet zu erweitern.
Europa steht auf dem Spiel! Andere Regierungschefs versuchen aus der angespannten politischen Lage Kapital bzw. Vorteile für ihr eigenes Land zu schlagen.
Europa steht auf dem Spiel, weil ein mächtiger Staatsmann sich seine eigene Geschichtsagenda zurechtgelegt hat und dieser folgend meint, Land, das seiner Diktion nach zu seinem Reich gehört, zurückholen zu müssen.
Europa steht auf dem Spiel, und wenn nicht rechtzeitig Besinnung einkehrt, wächst die Gefahr eines dritten Weltkrieges.
Bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine hatte bereits ein Kernland Europas die Gemeinschaft verlassen; andere spielten immer konkreter mit dem Gedanken eines „…-exit“, obwohl doch gerade jetzt in der weltpolitischen Spannung mit dem nicht fassbaren Dreieck von USA, China und Russland, mit den Konfliktherden in allen Kontinenten, mit all den weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Problemen, mit über 100 Millionen Flüchtlingen rings um den Erdball – gerade jetzt wäre Miteinander und Solidarität entscheidend wichtig.
Zugleich werden Überlegungen laut, den europäischen Verfassungsvertrag neu zu verhandeln; weiß der Herr auf welcher geistigen Grundlage!
Mit der europäischen Einigung hatte sich eigentlich eine jahrhundertelange Hoffnung auf Frieden in Europa erfüllt, nachdem ein entfesselter Nationalismus und andere extreme Ideologien Europa in die Barbarei zweier Weltkriege geführt hatten. Dieser Frieden, unsere Freiheit und der darauf basierende Wohlstand sind bis heute nicht selbstverständlich.
„Die Völker Europas haben sich aus freiem Willen in der Europäischen Union zusammengeschlossen. Sie gründet auf einem freien, gleichberechtigten, solidarischen, demokratischen, gerechten und loyalen Miteinander, wie es in der europäischen Geschichte ohne Beispiel ist“, habe ich vor einiger Zeit in einer Verlautbarung von Staatschefs gelesen.
Angesichts des Krieges in der Ukraine wird deutlich: Frieden wie auch eine sozial gerechte Lösung der großen globalen Herausforderungen kann Europa nur gemeinsam erwirken: Der Ukraine-Krieg wie auch die Folgen von Terrorismus, Klimawandel, wirtschaftlicher Globalisierung und Migration machen nicht an nationalen Grenzen halt.
Die Entwicklung hin zur wirtschaftlichen und sozialen Annäherung kann nur gemeinsam gestaltet werden. Deshalb darf es ein Zurück zu einem Europa, in dem die Staaten nicht mehr gleichberechtigte Partner, sondern Gegner sind, nicht geben, und es wäre unverantwortlich angesichts der immer konfliktreicheren Situation; ich nenne nur die Stichworte Amerika, Russland, China, Nordkorea, Iran, Irak, Türkei oder die vielen konfliktbehafteten südamerikanischen und afrikanischen Staaten.
„Wer sich der Vergangenheit nicht bewusst ist, kann keine lebenswerte Zukunft gestalten. Wer kein gemeinsames Fundament hat, der kann auch kein schützendes Dach bauen!“ Deshalb ist es wichtig, an den Beginn der europäischen Einigungsbemühungen zu erinnern nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege. Das Symbol für diese Bestreben um ein in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlergehen geeintes Europa ist die europäische Fahne.
Auch wenn manche Zeitgenossen es nicht wahrhaben wollen, dennoch ist der Kranz aus zwölf goldenen Sternen auf dem dunkelblauen Tuches die Folge eines Gelübdes. Die zwölf Sterne weisen nicht darauf hin, dass die Europäische Union einmal aus zwölf Staaten bestanden hat.
Die Geschichte der Fahne hat ihren Ursprung in der Zeit während des Zweiten Weltkriegs. Paul Lévi, ein Belgier jüdischer Abstammung, sah damals angsterfüllt in Leuven zahlreiche Eisenbahnzüge fahren, in denen die Juden von der deutschen Gestapo nach Osten in eine ungewisse Zukunft transportiert wurden. Damals legte Lévi das Gelübde ab, wenn er den Krieg und die Nationalsozialisten lebend überstehen würde, wollte er zum katholischen Glauben konvertieren. Er überlebte und wurde katholisch. Am 5. Mai 1949 wurde in London der Europarat gegründet und Paul Lévi wurde zum Leiter der Kulturabteilung des Europarats ernannt. Sechs Jahre später, 1955, diskutierten die Vertreter über eine gemeinsame Flagge. Sämtliche Entwürfe, in denen ein Kreuz enthalten war wie z.B. auf den skandinavischen Flaggen, wurden von den Sozialisten als ideologisch gebunden und zu christlich verworfen.
Eines Tages kam Lévi bei einem Spaziergang an einer Statue der Mutter Gottes mit dem Sternenkranz vorbei. Durch die Sonne beschienen, leuchteten die goldenen Sterne wunderschön vor dem strahlend blauen Himmel. Lévi suchte daraufhin Graf Benvenuti auf, einen venezianischen Christdemokraten und damaliger Generalsekretär des Europarats, und schlug ihm vor, zwölf goldene Sterne auf blauem Grund als Motiv für die Europafahne anzustreben. Benvenuti war begeistert, und wenig später wurde der Vorschlag allgemein akzeptiert. Und so ziert bis heute in allen Staaten der Europäischen Union der goldene Sternenkranz Marias die Europafahne.
Die Zwölfzahl der Sterne ist ein Hinweis auf die zwölf Stämme Israels und somit auf das auserwählte Volk Gottes. Der Kranz als Symbol des Erfolges und des Triumphes signalisiert die Unbesiegbarkeit der Frau. In der Offenbarung spricht Johannes nur von einer „Frau“, in der katholischen Auslegung wurde die Frau in der Offenbarung zeitweise mit Maria gleichgesetzt.
Für die Zahl zwölf sind neben dem Hinweis auf die Stämme Israels im Alten Testament noch die zwölf Apostel im Neuen Testament wichtig. Die Bedeutung der „Zwölf“ kann man auch darin sehen, dass zwölf das Produkt von drei und vier ist. Die Dreizahl steht für die Dreifaltigkeit Gottes in Vater, Sohn und Geist, und die Vier symbolisiert die Himmelsrichtungen. Zwölf steht damit auch für Vollkommenheit.
Die Flagge der Europäischen Union ist also nicht nur ein Symbol für die EU, sie steht im weiteren Sinne auch für die Einheit und Identität Europas. Im Wissen um den geschichtlichen Hintergrund der Bemühungen um ein geeintes Europa sowie ihres Symbols, den zwölf goldenen Sternen auf dunkelblauem Untergrund, wird deutlich, dass es ein grundlegender Fehler war, beim europäischen Einigungsvertrag darauf zu verzichten, das religiöse Fundament zu benennen.
Deshalb möchte ich daran erinnern, dass die Vertreter der zuvor verfeindeten Nationen, die sich im Krieg mit allen Mitteln bekämpften und jetzt zu einer Einigung im Blick auf eine friedvolle Zukunft kamen, dies aus ihrer christlichen Überzeugung taten. Die treibenden Kräfte, insbesondere Robert Schumann und Konrad Adenauer, waren praktizierende Katholiken. Vor einigen Tagen erst stand ich mit Ihrem Pfarrer, Msgr. Johannes Hofmann, nach dem Besuch in Verdun an dem Ort, wo Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 8. Juli 1962 zum Zeichen der Verbindung die Heilige Messe mitfeierten.
Europa ist weit mehr als nur ein Wirtschaftraum oder ein militärisch geschützter Kontinent. Europa ist Lebensraum, d.h. es geht um den Schutz menschlichen Lebens schon vor der Geburt bis zu seinem natürlichen von Gott verfügten Sterben und um den Schutz der uns anvertrauten Schöpfung, der natürlichen Umwelt. Es geht um den Wert und die Würde jedes einzelnen Menschen, seine Bildung und Befähigung zur Selbstsorge wie auch zur Solidarität und damit auch um soziale Gerechtigkeit. Das alles entspringt keiner Ideologie, sondern der Lebensbotschaft Gottes, die immer im Widerstreit mit eigensüchtigen Interessen einzelner Menschen wie Gruppen lag.
Als Lesung haben wir der aus dem letzten Buch der Bibel, der geheimen Offenbarung des Johannes, eine Kostprobe des Ringens um eine verheißungsvolle Zukunft gehört. Die Offenbarung des Johannes ist das einzige prophetische Buch des Neuen Testaments und zugleich eine Trost- und Hoffnungsschrift für die im Römischen Reich unterdrückten Christen. Der als biblische Botschaft vorgetragene Abschnitt ist überschrieben: „Der Kampf des Satans gegen das Volk Gottes“.
Im Blick auf die unverzichtbare Verbundenheit und Gemeinsamkeit in Europa dürfen nationalistische wie auch radikale Kräfte nicht in eine entscheidende Position kommen. Im Gegenteil kommt es gerade jetzt darauf an, ein Signal zu setzen für die Bedeutung eines tragfähigen geistigen und geistlichen Fundaments, auf dem sich das Miteinander entfalten und einer guten Zukunft entgegengehen kann.
„Wer sich der Vergangenheit nicht bewusst ist, kann keine lebenswerte Zukunft gestalten. Wer kein gemeinsames Fundament hat, der kann auch kein schützendes Dach bauen!“ Deshalb gilt – gerade beim Gedenken an Fatima – für eine friedvolle und lebenswerte Zukunft Europas zu beten und sich dafür auch politisch zu engagieren. Es braucht dazu die geistige Verbindung der Menschen, die ihren Lebensweg aus dem Glauben an den menschgewordenen Gott leben, aus dem Geist seiner Frohen Botschaft handeln und auch Verantwortung übernehmen – in einer Zeit, in der ein Mensch, der sich als Christ bekennt, schnell Gespött kabarettistischer Kapriolen ist und auch bei Redakteuren verschiedener Medien eher kritisch gesehen wird.
Was die Geschichtsbücher wohl eines Tages schreiben werden über die Bemühungen in unseren Tagen, Europa nicht länger zum Spielball nationaler Interessen zu machen, sondern als Haus zu gestalten, in dem die Menschen der verschiedenen Länder mit ihren jeweiligen Geschichten und Kulturen friedvoll zusammenleben? Das hängt von unserem beherzten und glaubwürdigen Einsatz heute ab.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung nach der Kommunion
Herr,
ich sehne mich nach Menschen,
die das Wesentliche in mir wachrufen,
die mir helfen,
die Oberfläche zu durchstoßen
und die Tiefe zu entdecken.
Ich bitte dich um Menschen, Herr,
die so leben, wie du gelebt hast,
damit ich glauben kann, dass es dich gibt:
– das Wort das befreit,
– die Hand, die mich aufrichtet,
– das Licht, das die Finsternis erhellt,
– das Brot, von dem man leben kann,
– den Menschen, in dem Gott uns nahe war.
Viele brauchen einen Menschen,
vielleicht mich …
(Lothar Zenetti)