Die Predigt im Wortlaut:
„Eine tägliche Verrohung in allen Schichten“ – so lautete die Überschrift zu einem Kommentar über den rassistisch motivierten Anschlag in Hanau, bei dem elf Menschen starben – darunter der Attentäter und seine Mutter. Das Entsetzen und das Erschrecken im ganzen Land sind unheimlich groß.
Der allergrößte Teil der Bevölkerung ist sich einig, dass nationalistisches und damit verbunden rassistisches, wie auch antisemitisches Denken den Boden bietet, auf dem extremistische Taten reifen. Deshalb greift es zu kurz, jetzt auf die offenbar belastete psychische Verfassung des Attentäters zu verweisen, wie ich das in der Stellungnahme eines Gewaltforschers gelesen habe unter der Überschrift „Eine tückische Kombination unterschiedlicher Faktoren“. Er deutet, dass Gewaltfantasien, eine psychische Erkrankung oder der fehlende Sinn im Leben für extreme Propaganda empfänglich machen.
Ebenso reicht es nicht aus, wie wiederum in den vergangenen Tagen geschehen, an vielen Orten Gedenkveranstaltungen und Proteste gegen die besorgniserregenden extremistischen Verhaltensweisen zu organisieren. In ZEIT-online las ich: „Es reicht nicht, ins Feuer zu spucken – rassistische Anschläge werden häufiger, die Halbwertszeit der gesellschaftlichen Empörung immer kürzer. Wir brauchen endlich Widerspruch. Auch wenn es unbequem ist.“
An dieser Stelle scheint es mir entscheidend wichtig zu klären, wogegen sich der Widerspruch richten soll, der für die Gesellschaft unbequem sein wird.
Deshalb komme ich nochmal zurück auf den eingangs erwähnten Kommentar mit der Überschrift „Eine tägliche Verrohung in allen Schichten“! Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen, es geht um ein Problem der gesamten Gesellschaft. Nach dem grausamen Ereignis von Hanau überboten sich die Disputanten in Talkshows mit möglichen Erklärungen. Immer wieder wurde dabei beteuert, dass schon durch die Sprache der Wind gesät würde, der dann in einem schrecklichen Sturm enden könnte. Wobei ich mich wundere, mit welch zunehmend beißender Schärfe die unterschiedlichen Teilnehmer bei den Diskussionen einander gegenseitig attackieren. „Eine tägliche Verrohung in allen Schichten“ will aufmerksam machen, dass alle nachdenklich werden sollten.
Gewiss gibt es viele Gründe für eine solche Tat wie aktuell in Hanau. Ich möchte aus meiner Wahrnehmung ein paar wenige nennen, die mit dazu beitragen:
- In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich das Menschenbild mehr und mehr verändert. Die Würde und Unantastbarkeit menschlichen Lebens werden immer mehr ausgehöhlt. Das beginnt mit der Selektion vor der Geburt und reicht bis zur Haltung, dem Leben aus vorgeblich „humanen“ Gründen, das Ende zu bereiten.
- Der Hochmut, der nur die eigene Hautfarbe, die eigene Nationalität, die eigene kulturelle und religiöse Prägung als richtig, gut und schützenswert erachtet, ist lebensgefährlich.
- Die Art und Weise wie über Menschen geredet wird, gerade über Personen im öffentlichen Leben ist vielfach erniedrigend – und zwar nicht nur in Kabarett-Shows.
- Der Unterhaltungswert durch Sendungen mit unzähligen Toten, die allabendlich über die Mattscheibe flimmern, prägt – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
- Die zunehmende Aggressivität im Umgang miteinander verbunden mit dem Anspruch „zuerst komme ich“, kennt kaum mehr Grenzen.
- Die inzwischen fast nicht mehr zu überbietende „Geiz ist geil“-Haltung führt auch dazu, Menschen mit Hilfs- und Unterstützungsbedarf oder mit Fluchterfahrung als Gefahr zu erachten, die nur Geld kosten.
- Die nachlassende Solidarität in weiten Teilen der Bevölkerung und damit verbunden die Kommerzialisierung der sozialen Dienste fragt nicht mehr: „Wie kann ich Dir helfen?“, sondern „Was kann ich an Dir verdienen?“.
Wie gesagt, das sind nur einige wenige der Gründe, die den Boden bieten, auf dem ein letztlich menschenverachtendes Verhalten heranwächst. Das alles weist auf das für mich größte Problem hin, nämlich die Gottvergessenheit und damit den Verlust eines geistigen und geistlichen Fundaments, das unser Leben und ein friedvolles Zusammenleben trägt.
Wie einen Wink des Himmels erachte ich deshalb die biblische Botschaft dieses Sonntags, wenige Tage nach den schrecklichen Ereignissen in Hanau. In der Lesung aus dem Buch Levitikus haben wir die Mahnung Gottes gehört, die Mose der Gemeinde der Israeliten weitergeben soll: „Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen.“
Menschen, die an Gott als den Schöpfer allen Lebens glauben, sind durch IHN miteinander verbunden und so auch Schwestern und Brüder.
Von daher stellt Jesus die gängigen Lebensgewohnheiten auf den Kopf, wie das Evangelium berichtet: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: …“ Bei ihm gilt also nicht: „Wie du mir, so ich dir!“ Von seinen Jüngern erwartet er, dass sie ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten großmütig und großherzig einsetzen, ohne sich ausnützen zu lassen.
Jesus geht sogar so weit zu sagen: „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?“
Von Kindesbeinen an hat sich mir das Wort eingeprägt, das von der Goldenen Regel Jesu abgeleitet ist: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu!“ Doch diese Haltung Kindern nahezubringen, ist seit Jahrzehnten verpönt! „Mein Kind soll sich einmal selbst entscheiden!“, war immer wieder als Ausrede zu hören.
Bemerkenswert ist die Menschenkenntnis Jesu. Er weiß sehr genau, dass Unfrieden, Konflikte, Streit und Ausbeutung entstehen, weil Menschen nur auf sich und ihren eigenen Vorteil bedacht sind. „Was fehlt dir?“, so kann ich nur dann fragen, wenn ich innerlich frei, nicht auf mich fixiert bin und mich angenommen und geliebt weiß.
Deshalb fühlten sich die Menschen in der Nähe Jesu wohl. ER wusste sich von Gott angenommen und geliebt und konnte deshalb den Menschen mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung begegnen und mehr geben als sie von IHM erwarteten. Genau das ist es, wozu Jesus einlädt: nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht gegen- und aufzurechnen, sondern den anderen durch Großzügigkeit zu übertreffen.
Dazu fällt mir eine Begebenheit aus dem Leben von Klemens Maria Hofbauer ein. Er war der Wiener Seelsorger im 19. Jahrhundert. Er wollte ein Obdachlosenheim bauen und sammelte Geld dafür. Er ging in die Wiener Kaffeehäuser und hielt den Gästen seinen Hut hin. Eines Tages geriet er an einen Mann, der Wut auf die Kirche hatte. Dieser fuhr ihn an: „Wie kommen Sie dazu, mich um Geld zu bitten?“ und spuckte ihm ins Gesicht. Klemens Maria Hofbauer nahm sein Taschentuch, wischte sich die Spucke ab und sagte: „Das war für mich, und jetzt geben Sie noch etwas für meine Armen!“ Er hielt ihm den Hut erneut hin. Der Mann war so perplex, dass er ihm seinen ganzen Geldbeutel in den Hut warf.
Der Psychiater C.G. Jung hat bei seinen Studien herausgefunden, dass ein Mensch besonders unangenehm reagiert, wenn sein Gegenüber seine eigenen Fehler spiegelt. Der Mann, den Hofbauer um eine Spende bat, wurde bei dieser Begegnung vermutlich mit seiner eigenen ich-bezogenen Lebensweise konfrontiert und ist ausgerastet, weil er nicht daran erinnert werden wollte.
Umso wichtiger ist der Blick auf das, was der Evangelist Matthäus überliefert: Jesus fordert nicht, Jesus lädt ein. Er zeigt einen Weg heraus aus der Spirale von „Wie du mir, so ich dir“, aus der Spirale von Nutzen und Vorteil, von Gewalt und Gegengewalt. Jesus fordert nicht, Jesus lädt ein! Darum sind die Haltung und die Rede Jesu wirklich etwas Neues!
Es heißt nicht: „Du sollst“, „Du musst“, „Du sollst nicht“, jetzt heißt es: „Probiere es aus“, „Riskiere es“. Es werden sich neue Möglichkeiten des Miteinanders auftun.
Das gilt auch für die Feindesliebe. Nicht nur das Christentum kennt sie, auch andere Religionen und Philosophien. Faszinierend aber ist, wie Jesus sie begründet. Nicht als moralische Weisung, nicht als verzweifelten Aufruf angesichts der sozialen Kälte oder der Gewalt in unserer Welt, sondern weil wir alle Kinder Gottes sind, die auch Verantwortung füreinander haben, deren Leben einander von Gott anvertraut ist. Von daher sehe ich den Menschen mir gegenüber mit anderen, mit verstehenden und barmherzigen Augen.
Wenn wir an die immer häufigeren Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund oder jüdischen Glaubens denken, aber auch an die Gewalttätigkeiten im Alltag, im Straßenverkehr, auf Bahnhöfen, selbst in Familien, unter Jugendlichen, dann wird deutlich, dass es sich um ein grundlegendes Problem handelt, so wie es im eingangs erwähnten Kommentar hieß: „Eine tägliche Verrohung in allen Schichten“. Deshalb „reicht es nicht, ins Feuer zu spucken – rassistische Anschläge werden häufiger, die Halbwertszeit der gesellschaftlichen Empörung immer kürzer. Wir brauchen endlich Widerspruch. Auch wenn es unbequem ist.“
Wir sollten uns schnellstmöglich der grundlegenden Debatte stellen, um die Wiederholung von so schrecklichen, menschenverachtenden Vorkommnissen wie in Hanau zu unterbinden!
Domkapitular Clemens Bieber,
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Sag, warum glaubst du
noch immer
schon wieder
immer wieder neu?
Vielleicht weil EINER an mich glaubt
darum glaub ich!
Sag, worauf hoffst du
noch immer
schon wieder
immer wieder neu?
Vielleicht dass EINER mir vertraut
darauf hoff ich!
Sag, wofür lebst du
noch immer
schon wieder
immer wieder neu?
Vielleicht dass EINER durch mich lebt
dafür leb ich!
(Lothar Zenetti)