Die Predigt im Wortlaut:
„Vielleicht ist der Baum schon gefällt, aus dem die Kiste für Dich gemacht wird!“ – Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an diese Predigt bei einer Gräbersegnung an einem Allerheiligentag Anfang der 70er Jahre hier auf dem Friedhof, also vor über 50 Jahren. Unser damaliger Pfarrer Franz Josef-Stettler, der am 8. August dieses Jahres im Alter von 91 Jahren verstarb, erzeugte mit diesem Satz bei vielen Gänsehaut. Bei seiner Beerdigung jetzt am 18. August in seiner Heimatgemeinde Westheim bei Hassfurt waren einige Glattbacher dabei. In allen Nachrufen – auch von unserem Bürgermeister – wurde deutlich, dass er selbst im Vertrauen auf Gott gelebt hat. So wurde er für viele Menschen zu einem Wegweiser für ein erfülltes Leben, das letztlich zu Gott hinführt.
Die Erinnerung an die Endlichkeit unserer irdischen Existenz gefällt aber nicht jedem. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass das Thema Sterben und Tod mehr und mehr verdrängt wird. Während vor Jahrzehnten noch die Pflege der Gräber und der Besuch auf dem Friedhof gerade am Allerheiligentag ein Anlass war, auch als Familie zusammenzukommen, verliert dieser Brauch mehr und mehr an Bedeutung. Das liegt aber auch an der veränderten, verkürzten Sicht auf das Leben. Denn an den Gräbern wird uns unsere menschliche Situation sehr klar vor Augen geführt. Demnächst ist es ja vielleicht schon unser eigenes Grab, vor dem wir jetzt stehen.
„Vielleicht ist der Baum schon gefällt, aus dem die Kiste für Dich gemacht wird!“ – Ist es jemandem zu verdenken, dass er nicht daran erinnert werden will? Wir tun zwar meist so, als ginge uns das alles im Augenblick nichts an, denn uns geht es ja nur ums Leben. Aber spätestens hier wird uns klar: Es geht letztlich auch um den Tod, um unsere eigene begrenzte irdische Existenz und auch die der anderen.
Unsere gängigen Vorstellungen vom Leben greifen hier an den Gräbern zu kurz. Die Tatsache ist doch: Wir werden geboren und über kurz oder lang müssen wir sterben. Die Lebenskurve führt vom Leben zum Tod. Dabei geht es jedoch um ein Leben nicht ohne den Tod, nicht am Tod vorbei, sondern durch den Tod hindurch.
Es geht darum, den Tod wahrzunehmen, denn es ist nicht selbstverständlich zu leben. Einmal ist es so weit. Manchmal sagen wir es ja: „Wir kommen alle einmal dran ...“ oder „Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen ...“. Aber wie ertrage ich es, genau das zu wissen? Was mache ich, wenn ich mitten im Leben ganz unverhofft, plötzlich mit dem Tod konfrontiert werde? Wenn ich erfahre: Jetzt geht’s für mich auf Leben und Tod?
Der Naturwissenschaftler und Philosoph Blaise Pascal hat im 17. Jahrhundert geschrieben: „Weil die Menschen gegen den Tod kein Heilmittel finden konnten, sind sie, um glücklich zu werden, darauf verfallen, nicht mehr daran zu denken.“ Um also nicht mehr an den Tod zu denken, lenken sich viele mit Konsum und Vergnügen ab. Andere fliehen in die Geschäftigkeit nach dem Motto: „Arbeiten und nur nicht verzweifeln.“ Und dabei gilt oft: „Jeder ist sich selbst der Nächste. Drum rette sich wer kann.“
Wenn aber das Ende im Ungewissen verschwindet, wird man auf Nummer sicher gehen und sich vom Leben nehmen, was immer man kriegen kann. Dann ist jeder vollauf damit beschäftigt, sich seine eigene kleine Unsterblichkeit zu bauen. Oder man sagt sich: „Ist doch alles egal. Gut leben, und das möglichst lange! Nach mir die Sintflut.“
Weitergehende Fragen etwa in Stunden der Trübsal werden als „moralischer Kater“ verbannt. Spüren Sie, wie der Sinn für das Leben verflacht, wenn der Tod nicht mehr wahrgenommen wird? – Es geht also zunächst bei uns Menschen tatsächlich um Leben UND Tod!
Und deshalb müsste uns spätestens hier bewusst werden:
Es kann doch nicht einfach alles so weiterlaufen,
- dass einzig der Besitz allein Trumpf ist,
- dass wir uns absichern nach dem Motto „Was man hat, das hat man“,
- dass wir uns schadlos halten auf Kosten anderer,
- dass wir die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen.
Dann bliebe es letztlich dabei: Es geht nur auf Leben und Tod.
In der biblischen Botschaft haben wir das Wort des Apostels Paulus an die Christen in Ephesus gehört: „Achtet also sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt … Nutzt die Zeit; denn diese Tage sind böse … Darum seid nicht unverständig, sondern begreift, was der Wille des Herrn ist, und lasst euch vom Geist erfüllen.“
Der Besuch auf dem Friedhof, an den Gräbern unserer Verstorbenen ist eine Chance, um mitten im Alltag zum Nachdenken über unser Leben zu kommen. Suche ich mein Glück dadurch, dass ich den Gedanken an den Tod verdränge, oder dass ich an jedem Tag, der mir geschenkt ist, meinem Leben Sinn und Ziel gebe, und deshalb IHM folge?
Wer tatsächlich auf diesen Jesus setzt und auf seinen Weg, der vom Tod zum Leben führt, für den ändert sich etwas, und zwar nicht erst später im Jenseits, sondern schon jetzt – mitten in diesem Leben. Er wird anfangen zu teilen, von seinem Leben mitzuteilen.
Wenn nämlich das Leben für uns nur noch das alles vor dem Tod ist, dann richtet sich aller Hunger, alle Lebensgier auf dieses kurzes Stück Leben, auf die paar Jahrzehnte mit der Folge: Ja nichts verpassen, alles jetzt. Tempo, Tempo! Die Zeit tickt. Und wenn somit das Leben zur „letzten Gelegenheit“ wird, wie Herbert Grönemeyer singt, dann muss man seine unendlichen Wünsche in die kurze Lebenszeit hineinpressen. Dann werde ich geradezu getrieben sein, möglichst alles herauszuholen, möglichst alles mitzunehmen, möglichst alles zu genießen.
Wer aber jetzt nicht alles haben muss, weil ihm das Beste immer noch bevorsteht, der verliert die Angst, zu kurz zu kommen. Er hat Zeit sich anderen zuzuwenden, besonders denen, die keinen Menschen haben. Gerade für diese Menschen hat Gott sich Zeit gelassen. Er hat sich in die Zeit, auf die Menschen eingelassen. In Jesus Christus ist er unser Zeit-Genosse geworden.
Daran können wir uns halten, auch in unserer Zeit, die SEINE Zeit ist. Wer darauf vertraut, der ist von dem Druck befreit, selber den Himmel auf Erden schaffen zu müssen. Er weiß, dass Gott in seinem Lebensvorrat noch mehr zu bieten hat als die kurze Spanne Lebenszeit. Darum muss er nicht in Hektik geraten, ja nichts zu verpassen. Darum muss er nicht die Flucht nach vorn antreten. Er kann sich gelassen der Gegenwart zuwenden.
Die entscheidenden Dinge in unserem Leben brauchen Zeit. Vertrauen gewinnt man nicht im Vorübergehen. Freundschaft und Liebe brauchen Zeit. Trauer lässt sich nicht im Zeitraffer oder nach Terminplan regeln. Miteinander Mahl halten – das braucht Zeit. Das ist etwas ganz anderes, als sich in einem Schnellimbiss zu sättigen, wie ja auch die englische Bezeichnung sagt: Fastfood.
Von daher war es geradezu heilsam, dass früher der Friedhof, und gerade deshalb auch Kirchhof genannt, oft mitten im Dorf um die Kirche herum angelegt war. Somit wurden die Menschen auf ihrem Weg durchs Dorf und auf dem Weg etwa vom Gottesdienst zurück in den Alltag erinnert, dass unsere Zeit immer begrenzt ist. Sie wurden aber auch erinnert, dass unsere Zeit hier auf Erden nicht alles ist, denn unser ganzes Leben, auch über den Tod hinaus, ist geborgen in den Händen Gottes.
Wenn wir hierher zum Friedhof kommen, dann geht es nicht nur um unsere Verstorbenen, dann geht es auch um uns. Denn unsere Verstorbenen können uns helfen, dass wir die Zeit nicht vertun, sondern durch die Zeit hindurch zum Leben kommen. Hier können wir immer wieder neu begreifen, unser Leben – wie die Mönche früher sagten – „sub specie aeternitatis“ – unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu sehen. Und wer das kann, sieht weiter als nur bis zum Grab.
Die Formulierung damals von Pfarrer Stettler war momentan erschreckend, aber sie hat viele aufgerüttelt nachzudenken, wie wir unser Leben gestalten, und wohin unser Leben letztlich führt. Das wünsche ich auch jeder und jedem von uns. Dabei möge uns dieses Gebet begleiten:
„Gott, jede Zeit ist eine von dir geschenkte Zeit.
Wir können sie gestalten, genießen, ertragen.
Wir können diese kostbare Zeit auch verspielen.
Deshalb weite unsere Gedanken und unsere Herzen,
damit wir mehr und mehr Christen werden,
aufrichtige Menschen,
die nach dem Geist Jesu zu leben versuchen,
und so einmal zur Vollendung in dir gelangen.“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de





